Vorurteile und ihr Wahrheitsgehalt

„Die Griechen haben keine Steuermoral“, „In Afrika gibt es nur Holzhütten“ oder „Die Ungarn essen nur Gulasch“; das sind gängige Klischees, die an Stammtischen vertreten werden. Was daran stimmt? Keines der genannten Vorurteile, da es auch in Griechenland Steuerzahler, in Afrika Einfamilienhäuser und in Ungarn Pizzaliebhaber gibt. Mein Anliegen ist es, mit Vorurteilen über Ungarn aufzuräumen und die realistischen Verhältnisse darzustellen, soweit ich sie (natürlich auch subjektiv) beurteilen kann.

Warum gibt es Vorurteile? Kurz gesagt, sie sind dazu da, um es unserem Gehirn einfacher zu machen. Es ist schwierig, sich über jeden einzelnen Menschen ein Bild zu machen und viel leichter, einmal in einem Land gewesen zu sein und Gesehenes zu verallgemeinern oder sich von den Medien oder Meinungen anderer leiten zu lassen. So entsteht ein Schema, das wir von bestimmten Menschen eines Landes auf alle übertragen. Ein abschreckendes Beispiel ist die öffentliche Meinung über Afrika. Die Medien zeichnen ein Bild von Hungersnöten, mangelnder Hygiene und Kriegen. Da es zudem immer noch Menschen gibt, die Afrika für ein Land halten, werden nicht nur Erfolge ausgeblendet, sondern auch häufig die Situationen in Ruanda und Südafrika gleichgesetzt – was für ein fataler Fehler.

Aber kehren wir nach Europa zurück, auch wenn Viktor Orban kürzlich meinte, Ungarn gehöre zu Asien. Welche Vorurteile haben die Deutschen über Ungarn und das ungarische Volk? Dazu habe ich als Quelle das genutzt, was ich von anderen Deutschen über Magyarország (Ungarn) hörte und höre und zugleich, was ich selbst vor meinem Aufenthalt über das Land dachte (dies alles wie hoffentlich unschwer zu erkennen auf die Spitze getrieben).

Das ungarische Nationalgericht, das dennoch nicht gerade jeden Tag gegessen wird.

1. „Die Ungarn essen immer Gulasch.“
Das wohl beliebteste Vorurteil. Ich denke darauf passt wohl am besten die Antwort: Ja, es gibt Gulaschsuppe (gulyás)- insbesondere in den Touristenhochburgen zu essen. Eine nicht ganz repräsentative Umfrage unter meinen Schülerinnen und Schülern ergab denoch, dass sie im Durchschnitt gerade mal 1,5-mal im Monat Gulaschsuppe essen.

Gulasch ist demnach lange nicht das einzige Gericht, das die Ungarinnen und Ungarn zu sich nehmen. Ganz im Gegenteil: Lángos ist nur ein Beispiel für eine weitere Mahlzeit, die aus einem frittierten Hefeteigfladen (mit Knoblauch gewürzt) besteht, optional mit Sauerrahm bestrichen wird, und die ich sehr schätze.

Im Allgemeinen ist die ungarische Ernährung in Grundzügen ähnlich wie bei uns in Deutschland. Dennoch gibt es ein paar tendenzielle Unterschiede, die natürlich auch nicht immer zutreffen müssen: Es wird mehr Fleisch und weniger Obst, Gemüse und Salat gegessen. Bio-Produkte gibt es so gut wie gar nicht („Hauptsache was Billiges zwischen die Zähne“, sagte kürzlich eine Schülerin zu mir).  Schülerinnen und Schüler essen zumeist mittags in der Schulkantine, und abends wollen sie wiederum eine warme Mahlzeit.

Demnächst folgt ein Artikel mit dem Titel „Einführung in die ungarische Küche“.

2. „In Ungarn gibt es viele schöne Mädchen.“

Diese Frage ist naturgemäß nicht objektiv zu beurteilen. Dennoch meine subjektive Einschätzung:

Egal, wo ich bin, ob auf der Straße, in der Schule oder auf Konzerten: Ich sehe fast immer hübsche Mädchen und Frauen, die sehr gut bzw. knapp angezogen sind und die für lockere Unterhaltungen sehr offen sind. In Deutschland gibt es gewiss auch Naturschönheiten, aber wohl nicht in der Anzahl, und sie ziehen sich auch nicht so „offenherzig“ an. M.E. nach liegt der Unterschied der Kleidungsstile an den noch traditionelleren Rollenbildern in Ungarn.

Sind also die Ungarinnen tatsächlich schöner als die deutschen Frauen? Vielleicht rührt meine Einschätzung der Ungarinnen auch von meiner Herkunft, denn ich hörte von einigen Ungarn, die ungarischen Mädchen seien gar nicht so besonders hübsch, dafür aber die deutschen. Meine Folgerung: Es ist doch eher das Fremde, das Menschen subjektiv attraktiver macht.

3. „Ungarn ist eine Trinker-Nation.“

Hierzu ein paar persönliche Eindrücke:

Ich laufe um acht Uhr morgens zur Schule, es kommt mir ein Mann mit einer Bierdose entgegen. Gut, das passiert, Alkoholiker gibt es leider überall. Am selben Tag gehe ich zurück zu meiner Wohnung und sehe Handwerker im Auto (!), die Palinka (den typisch ungarischen Schnaps) trinken. Das war schon schockierend. Einige Wochen später sehe ich wieder auf dem morgendlichen Weg ins Gymnasium eine alte Dame, die sich einen Schnaps genehmigt und so aussieht, als hätte sie schon ein paar intus. Puh, was ist nur los in Ungarn?

Palinka, der typisch ungarische Obstschnaps

Sicherlich, ich habe nur einzelne Menschen gesehen, die wahrscheinlich Probleme haben, deshalb möchte ich das nicht verallgemeinern. Dazu ist es wohl sinnvoll, Fakten in die Hand zu nehmen und die Statistik der Weltgesundheitsorganisation über den Alkoholkonsum der Europäer unter die Lupe zu nehmen, auch wenn sie von der mir ungeliebten „Bild“-Zeitung veröffentlicht wurde. Hier findet sich Ungarn auf dem zweiten Platz mit 16,27 Litern reinem Alkohol pro Kopf und Jahr. Deutschland hingegen „abgeschlagen“ auf dem 19. Platz mit 12,81 Litern.*

Daraus lässt sich eindeutig und objektiv herleiten, dass der Alkoholkonsum in Ungarn um mehr als drei Liter reinen Alkohol pro Kopf und Jahr höher ist als in Deutschland. Ich vermute, das kommt daher, dass die Magyaren gerne Palinka, der bis zu 80% Alkohol enthält, trinken und die Deutschen tendenziell lieber Bier.

4. „Ungarn ist ein armes Land.“

Armut oder Reichtum der Menschen einer Nation kann man meiner Meinung nach einigermaßen gut beurteilen, wenn man Löhne und Lebenshaltungskosten vergleicht. Lehrerinnen und Lehrer verdienen in etwa 450 Euro im Monat, was nach ihrer eigenen Aussage ein Hungerlohn ist. Die Putzfrauen der Schule bekommen, wie ich hörte, um die 200 Euro monatlich. In der freien Wirtschaft, als Anwalt oder Politiker lässt sich mehr Geld machen, die Gehälter sind um einiges höher.

Nun zu den Kosten: Lebensmittel sind bisweilen billiger, manchmal aber auch unverschämt teurer, z.B. eine Fertigpizza für 799Ft (knappe drei Euro). Essen gehen ist interessanterweise in etwa gleich teuer als selbst kochen, ein Hot-Dog bei meinem Lieblingsimbiss kostet gerade einmal 250Ft (weniger als ein Euro). Kosmetikartikel und Elektronik sind unverschämt teuer, z.B. kostet ein USB-Kabel für mein Handy mehr als das Doppelte als in Deutschland. Dienstleistungen sind tendenziell günstiger, ein Friseurbesuch für Herren mit Föhnen liegt beispielsweise bei 1800Ft (ca. 6,40 Euro).

Es ergibt sich also ein gemischtes Bild sowohl der ungarischen Löhne als auch dem Preisniveau. Dennoch: Wenn man Matyas Benyik, dem Ökonomen und Vorsitzenden von „ATTAC Hungary“ glaubt, liegt die reale Armutsrate in Ungarn bei katatrophalen 40%.**

5. „Die ungarische Infrastruktur ist komplett heruntergekommen.“

Dies bezieht sich natürlich auf Punkt vier, wobei hier eher das Staats- als das Privatvermögen behandelt wird.

Auch bei diesem Thema zeichnet sich wieder ein gemischtes Bild ab: Zum einen der wunderschön hergerichtete fünfte Budapester Bezirk und das Areal rund um den Tataer See, zum anderen hässliche alte Plattenbauten in Budapests Vorstadt und schier unbegehbare Gehwege in Tata. Auch die Züge reichen von sehr modernen Varianten bis hin zu solchen, die sozialistischen Charme innehaben. Da uns Extrembeispiele uns schließlich nicht weiterhelfen, will ich meinen Gesamteindruck äußern: Die Infrastruktur hat im Vergleich zu Deutschland Nachholbedarf, ist aber stellenweise (dank der Europäischen Union) gut ausgebaut.

6. „Die Kriminalität in Ungarn ist hoch, man muss aufpassen, dass man nicht beklaut wird.“

Ich muss ehrlich gestehen, dass ich anfangs so dachte. Als ich gerade zum ersten Mal in meinem Leben mit dem Zug nach Ungarn fuhr und mir eine freundliche Frau mit meiner Tasche helfen wollte, da ich schweres Gepäck bei mir hatte, bekam ich es schon mit der Angst zu tun, da in besagter Tasche sich mein Laptop befand.

Was ich zum jetzigen Zeitpunkt sagen kann, ist das komplette Gegenteil. Zumindest in Tata kann man ohne Probleme zu jeder Tages- und Nachtzeit alles aufsuchen und sich frei auf offener Straße bewegen, ohne Angst vor einem Überfall haben zu müssen. In Budapest hört man zwar schon von Dieben, so wie diesem (http://www.youtube.com/watch?v=qoaixriclqU), doch nach Meinung des Auswärtigen Amtes (was ich nur bestätigen kann), ist die Kriminalität dort nicht höher als in anderen europäischen Hauptstädten.

 

Was lässt sich für ein Gesamtfazit ziehen? In Reinform trifft keines der genannten Vorurteile zu, dafür sind die Menschen und Situationen einfach zu individuell. Manchmal hat ein Klischee mehr Wahrheitsgehalt, manchmal weniger.

Genau deshalb liebe ich es zu reisen, da dadurch Stereotype abgebaut werden und man auf die Wirklichkeit in einem fremden Land trifft. Ich hoffe darauf, in meinem Leben noch viel über fremde Kulturen erfahren zu können.

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*Quelle: http://www.bild.de/ratgeber/gesundheit/alkoholmissbrauch/so-viel-wird-in-europa-getrunken-suff-statistik-who-deutschland-platz-19-19947398.bild.html (Stand: 29.11.2012, 21:31)

**Quelle: http://www.news.at/a/attac-hungary-ungarn-armut-325176 (Stand: 29.11.2012, 22:32)

Bildquellen:              Gulasch: s. Anderes

Palinka: http://www.flickr.com/photos/lelanaku/6472170781/sizes/z/in/photostream/

 

 

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