Ladies First

Ein Leben im Ausland ist nicht nur eitel Sonnenschein. Vieles kann schief gehen: Ein verlorener Reisepass wäre ein Alptraum, man vermisst seine Liebsten – oder aber man tappt in ein Fettnäpfchen. Genau letzteres passierte mir letztens in Moskau. Was sich genau ereignete und was wir daraus lernen können, erfahrt ihr im Folgenden.

Los geht es vom Voronežer Bahnhof...

Los geht es vom Voronežer Bahnhof…

Gute Vorbereitung ist ein Muss, dachten meine Freiburger Freundinnen und Freunde und schenkten mir einen sogenannten Fettnäpfchenführer über Russland vor meiner Abreise. Pflichtgemäß laß ich ihn komplett durch und erfuhr etwa, dass es in Russland als unhöflich gilt, sich in der Öffentlichkeit die Nase zu schnäuzen.

Letztens sollte es nach drei Monaten endlich wieder die Zwölf-Millionen-Metropole Moskau gehen. Also stieg ich in den Nachtzug und bezog mein Platzkart-Bett. Die Liegen neben waren von einem russischen Mitdreißiger mit Bauchansatz und zwei usbekischen Gastarbeitern reserviert worden. Wir stellten einander vor. Schnell fachsimpelten meine Zugkollegen über Autos. Ich war eher ruhig, wollte in meinem Moskau-Führer blättern, und vor allem interessierte es mich einfach nicht, welche Preisunterschiede mir unbekannte Automarken in Russland und Usbekistan aufweisen. Dass ich kaum Teil der Konversation war, goutierte der Russe scherzhaft damit, dass er mich als „Spion“ bezeichnete.

Über die nächsten Tagen gäbe es viel Positives zu berichten: Es war klasse, einige Freunde wieder zu treffen, ich war mehr als beeindruckt von Moskaus Architektur, etwa entlang in der Tverskaja ulica, und der atmosphärischen Weihnachtsdekoration. Kurzum, ich könnte ein Loblied auf Moskau singen.

Weihnachts- bzw. Neujahrstimmung in der Hauptstadt kommt durch die schöne Dekoration auf.

Weihnachts- bzw. Neujahrstimmung in der Hauptstadt kommt durch kreative Dekoration auf.

Doch das wäre langweilig. An dieser Stelle soll es deshalb nicht um das Schöne und Gute gehen, sondern um das Schlechte, Erschreckende, zugespitzt, um die Abgründe des menschlichen Daseins.

Ich, der unwissende Ausländer

Es fing ganz harmlos an: Wie ein gewöhnlicher Moskauer fuhr ich mit meiner russischen Bekannten Alla die nicht enden wollenden Rolltreppen hinunter und nahm die Metro, um von A nach B zu kommen. Die Sitzplätze im Waggon waren belegt, meine Freundin konnte einen Sitzplatz ergattern. Kurz darauf wurde zu meiner Freude neben ihr ein Platz frei. Dann geschah alles wie in Zeitlupe: Ich wollte mich setzen – sah, wie eine etwa vierzigjährige Frau ebenfalls den Platz unter Beschlag nehmen wollte – ich versuchte schneller zu sein – war letztlich fixer und setzte mich. Juhu, geschafft. Das habe ich mir nach dem anstrengenden Marsch durch die Hauptstadt verdient! Sicherlich wusste ich, dass dies vielleicht nicht die höflichste Geste war, dafür aber erkannte ich es als mein gutes Recht an, als erster mir den Platz zu sichern.

Ich konnte nicht absehen, was dann passierte: Wir standen auf, um die Metro zu verlassen. Ich, zur Tür gehend, sah, wie sich Alla tausend Mal bei der Dame entschuldigte. Er ist Ausländer, er weiß das nicht. Ich stand wie gelähmt da. Offenbar hatte ich eine großen Fehler begangen, hatte mich auf keinen Plastiksitz, sondern in ein Fettbad gesetzt. Was sollte ich der Frau sagen? Entschuldigung, dass ich Ihren Platz weggeschnappt habe?

Die Rolltreppen wollen niemals enden.

Die Rolltreppen wollen niemals enden.

Alla erklärte mir auf der Rolltreppe aufwärts, dass in Russland Frauen bei Sitzplätzen in öffentlichen Verkehrsmitteln Vorrang hätten. Männer nähmen erst dann Platz, wenn alle Frauen mit Sitzgelegenheiten versorgt seien. In einer Situation wie meiner hätte ich der Dame auf jeden Fall den Sitz anbieten sollen.

Das wusste ich nicht. Das war alles, was mir über die Lippen kam. Es tat mir leid, dass ich Alla vor der Frau in außerordentliche Verlegenheit gebracht hatte. Doch Mitleid gegenüber der Frau regte sich in mir nicht. Sie war weder alt, noch gebrechlich, noch schwanger, noch hätte es für mich sonst einen Grund gegeben, ihr den Platz zu offerieren.

Ich war in einer westlich-kapitalistischen Ellenbogengesellschaft aufgewachsen und hatte als anständiger Bürger Sprüche wie First come, first served oder Wer zuerst kommt, mahlt zuerst selbstverständlich verinnerlicht. Darüber hinaus heißt ein in Russland äußerst populärer Film aus der Sowjetzeit „Moskau glaubt den Tränen nicht“ (hier der Trailer auf Russisch, man kann aber auch deutsche Untertitel anschalten). Geprägt von meiner Herkunft, mich an den Filmtitel erinnernd und mithin keine Schwäche in der russländischen Hauptstadt der Konkurrenz zeigend, schnappte ich mir den Sitzplatz.

So viel zur Rechtfertigung. Dieses Geschehnis musste ich erst einmal verdauen. Doch lange entspannen konnte ich nicht, denn schon am nächsten Tag widerfuhr mir, besser gesagt meiner unmittelbaren Umgebung, eine ähnliche Situation.

Von Sexismus und Höflichkeit

Ich war alleine in der Tramlinie 19 zum Gulag-Museum unterwegs. Wieder war kein Sitzplatz frei, wieder betrat eine circa Vierzigjährige den Waggon. Dann geschah etwas Unerwartetes: Im Unterschied zu mir ungehobeltem Flegel stand ein etwa Siebzigjähriger (!) für die Dame auf. Mit einem machohaften Lächeln bat er ihr den Sitz an.

Die Frau lehnte dankend ab – aus meiner Sicht verständlicherweise, denn der Rentner hatte die Sitzgelegenheit um einiges nötiger. Doch er gab nicht nach, lächelte weiter auf seine spezielle Weise. Nach gefühlten zehn Minuten „Verhandlung“ nahm sie endlich das Angebot an. Zufriedenheit macht sich neben den Falten im Gesicht des älteren Herren breit.

Doch was können wir daraus lernen? Handelt es sich etwa bei einem solchen Platz-Anbieten um Sexismus? Im Duden wird Sexismus folgendermaßen definiert:

„Vorstellung, nach der ein Geschlecht dem anderen von Natur aus überlegen sei, und die [daher für gerechtfertigt gehaltene] Diskriminierung, Unterdrückung, Zurücksetzung, Benachteiligung von Menschen, besonders der Frauen, aufgrund ihres Geschlechts.“*

In der oben besprochenen Gepflogenheit sollten Herren den Damen den Vortritt lassen, wenn es um Sitzplätze in öffentlichen Verkehrsmitteln geht. Dies ist eine Diskriminierung, im Sinne einer Ungleichbehandlung, die aufgrund des Geschlechts stattfindet. Diese wird zum Teil vehement vertreten, wie etwa von dem Siebzigjährigen, den ich in der Tram sah. Der Grund dafür scheint mir zu sein, dass von Frauen angenommen wird, dass sie „von Natur aus“ schwächer seien als Männer und daher Sitzplätze eher nötig hätten. Also, ja: Diese Sitte ist sexistisch – und ich lehne Sexismus ab.

Hektisches Treiben der Moskauer Ellenbogengesellschaft in der Metrostation Kievskaja, denn "Moskau glaubt den Tränen nicht"

Hektisches Treiben der Moskauer Ellenbogengesellschaft in der Metrostation Kievskaja, denn „Moskau glaubt den Tränen nicht“.

Andererseits sollte es ein wichtiges Ziel eines Auslandsaufenthaltes sein, zu versuchen, die dortige Kultur besser zu verstehen und sich ein Stück weit anzupassen. Ich probiere die Funktionsweise der in vielen Fällen patriarchalen russischen Kultur nachzuvollziehen. Wie also kann ich mich im nächsten Schritt anpassen, ohne Sexist zu sein?

Hierzu überlegte ich, dass es im Grunde genommen eine schöne und höfliche Geste ist, einem anderen Menschen einen Platz anzubieten. Wenn ein Mann gegenüber einer Frau diese Geste nur aufgrund ihres Geschlechts vollzieht, ist es sexistisch. Wenn „man“ (oder wie einige Mitglieder meines Gender-Seminars schreiben würden: „mensch“) allerdings seinen Sitz für andere Menschen unabhängig vom Geschlecht freimacht, dann fällt der Sexismus weg, und es bleibt die Höflichkeit. Die Geste wird mit einer anderen Bedeutung aufgeladen. Mithin kann ich mir diese Art von Sitte getrost für meine künftige Karriere in Metros, Trams oder Bussen angewöhnen.

Das mag sehr abstrakt klingen. Doch würden sich dies mehr Menschen angewöhnen, könnten sie sich für die gute Tat selbst auf die Schulter klopfen, gleichzeitig würde der eine oder andere Profiteur des Sitzes entspannter und zufriedener in die Uni oder zur Arbeit kommen – und solche Mitmenschen könnten wir alle gut gebrauchen.


* Duden (o.J.): Sexismus. Online verfügbar unter http://www.duden.de/rechtschreibung/Sexismus. Zuletzt geprüft am 21.12.2016.

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