Ich, der Neig’schmeckte

Bisher wurde ich in Russland als Ausländer geradezu auf Händen getragen. Doch neulich im Voronežer Einkaufszentrum Galereja Čižova bekam ich den ersten negativen Kommentar zu Ohren. Wie die Situation genau vonstatten ging und wie ich überraschend reagierte, lest Ihr im Folgenden.

Was passiert, wenn man in der Voronežer Öffentlichkeit Englisch, Deutsch oder Russisch mit deutschem Akzent redet und/oder sich als Deutscher outet?

Ein Betrunkener schloss mich in die Arme und seufzte: Wir sind Brüder. Ein anderer Alkoholiker wollte unbedingt, dass ich mit seiner Frau telefoniere, die Deutsch spreche. Ich erntete Blicke der Verwunderung. Was willst Du als Deutscher denn HIER?, wurde ich oft gefragt. Die bislang unerfreulichste Reaktion war die einer Dame, die mich im Baumarkt nach etwas fragte. Ich gestand, dass ich nur wenig Russisch spreche. Sie ging schockiert weg.

Kürzlich änderte sich diese bisher eindeutig positive Bilanz.

Schon lange wollte ich mich mit meinem Freund Vladimir treffen, den ich beim Deutsch-Stammtisch kennen gelernt hatte. Letzten Freitag schafften wir es endlich, trafen uns in der „Galereja Čižova“ (über die ich bereits schrieb) und nahmen den Aufzug in die vierte Etage, zur allseits beliebten Fressmeile.

Vladimir und ich beim Spaziergang, mit dem wir uns von den Geschehnissen im Einkaufszentrum erholten.

Im Luft waren wir zu viert: Zwei junge Frauen, Vladimir und ich. Vladimir und ich hatten einander natürlich nach langer Zeit und Weihnachtspause viel zu erzählen. Wir sprachen Deutsch, also redete ich im Aufzug so laut wie in Deutschland. Im Nachhinein betrachtet war dies am Maßstab der russischen Sitte vielleicht ein bisschen zu laut.

Wir erreichten die vierte Etage und stiegen aus. Dann geschah alles sehr schnell. Ich hörte die Mädchen wispern – und Vladimir reagieren. Etwas muss vorgefallen sein, doch ich konnte es nicht nur aufgrund meiner eingeschränkt vorhandenen Russischkenntnisse, sondern auch aufgrund der bereits erwähnten Etikette des leisen Sprechens der Beteiligten nicht verstehen.

Mein Freund erzählte mir danach, dass eine der Frauen uns als „Panaechali“ bezeichnet hatte. Vladimir reagierte damit, dass er sagte, er sei Russe und es sei sehr unhöflich uns „Panaechali“ zu nennen.

Was bedeutet nun dieses Wort? Panaechali hatte ich hilfreicherweise schon mit meinem russischen Tandempartner in Freiburg besprochen; es ist ein abschätzig verwendeter Ausdruck für „Zugezogene“. Im Schwäbischen und Alemannischen würde man solche Fremden, seien sie aus Hamburg, Berlin oder Köln, „Neig’schmeckte“ nennen. Das sind Menschen, die von ihrem natürlichen „Geschmack“, also etwa Sprache und Kultur, nicht zur Gruppe passen und damit wie eine falsche Zutat in einem Rezept als ein Fremdkörper im Kollektiv sind. Volle Akzeptanz können sie nie erreichen.

Die Konfrontation

Ich war geplättet. Das war nach dem entgegengebrachten Hitlergruß in einer ungarischen Diskothek das erste Mal, dass ich eine solch negative Reaktion im Ausland erlebte.

Allerdings knurrte jetzt mein Magen. Es war an der Zeit, die Gedanken an die gerade erlebte Situation beiseite zu schieben und sich dem Essen zuzuwenden. Da gab es einen Stand mit Kartoffeln und Gemüse, das sah nicht schlecht aus. Ein Stückchen weiter war ein Restaurant mit klassisch russischer Küche, auch keine schlechte Idee. Während Vladimir und ich die Karte studierten, erblickte ich die beiden Frauen aus dem Aufzug im Restaurant. Sie setzten sich und bestellten.

Da kam uns DIE Idee: Wir könnten neben den beiden Platz nehmen und damit, was die eine der beiden gesagt hatte, konfrontieren. Vladimir bläute mir ein, nicht mit Wut in die Situation zu gehen, sondern mit Verständnis. Sonst erreiche man überhaupt nichts.

Gesagt, getan. Wir fragten höflich, ob wir uns zu ihnen setzen könnten. Die beiden Damen, die sich als Galja und Irina vorstellten, willigten zögerlich ein. Wir plauderten ein wenig. Galja und Irina arbeiten bei einem Klamottenladen, der im Einkaufszentrum gerade eröffnet. So konnte sich Vladimir, der ebenfalls im Kleiderbusiness tätig ist, gut mit ihnen unterhalten.

Galja lobte deutschen Käse. Ich lobte russische Gastfreundschaft und erzählte davon, wie es ist in Voronež als Ausländer zu leben. Ja, meine Wut war verflogen. Wir führten tatsächlich eine nette Unterhaltung.

Letztlich konnte ich doch nicht widerstehen, Galja, die dieses Wort fallen ließ, ganz unschuldig zu fragen, was eigentlich „Panaechali“ bedeute. Sie meinte, sie sei eine Person, die oft unüberlegt scherze, das sei auch in jener Situation der Fall gewesen.

Einem Foto willigten die beiden leider nicht ein. Irina meinte, sie möchte lieber nicht die rasende Eifersucht ihres Freundes provozieren.

Und die Moral von der Geschicht’…

Auch wenn es unklar ist, inwieweit die Erklärung, die Bezeichnung als „Neig’schmeckte“ ein Scherz gewesen sei, Ernst gemeint war, war es richtig, die jungen Frauen zu konfrontieren. Galja wird bestimmt in Zukunft beleidigende Worte zögerlicher wählen.

Galja und Irina können jetzt besser sehen, dass Ausländer nicht nur Zugezogene sind, sondern dass ich einen Namen, Charakter und Geschichte habe. Die Mädchen gaben zu, sie selbst seien eigentlich auch Zugezogene, denn sie seien aus dem Voronežer Gebiet in dessen Hauptstadt gezogen. Dies zeigt, und ist die Moral von der Geschicht‘: Es ist absurd, Menschen aufgrund ihrer Herkunft abzustempeln – deshalb tu‘ es nicht!

Hier der schöne Blick auf den zugefrorenen Fluss Voronež während unseres Spazierganges nach den Ereignissen im Einkaufszentrum. Betreten sollte man den Fluss übrigens besser nicht, wenn einem sein Leben lieb ist.

Kategorien:

4 Antworten

  1. Norbert sagt:

    Vorurteile gibt’s offenbar überall auf der Welt. Die beiden Mädels damit zu konfrontieren find ich ganz schön mutig, alle Achtung!

  2. Sarah sagt:

    Wie ist die Situation in Woronesch im Jahr 2017.
    Mein Mann möchte in dort studieren. Er ist Syrier und sieht typisch syisch-arabisch aus.
    Werden wir da Probleme bekommen?
    Was ist mit muslimischen Frauen?
    Kann man in Woronesch mit Kopftuch oder Vollverschleierung auf die Straße gehen?

    • Simon Federer sagt:

      Hallo Sarah,
      entschuldige, ich habe deinen Kommentar erst jetzt gesehen.
      Woronesch ist nicht sehr multikulturell, da fällt man schon auf, wenn man etwas anders als der Durchschnittsrusse aussieht. Also müsst ihr mit ein paar schrägen Blicken leben können. Andererseits gibt es in Woronesch viele afrikanische Studenten und zudem einige Einwanderer aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, davon viele Muslime. Und mir scheint, dass das Zusammenleben mit der russischen Mehrheitsgesellschaft insgesamt friedlich ist. Also kannst du ruhig mit Kopftuch auf die Straße gehen.
      Wohnt ihr mittlerweile in Woronesch?

      • Sarah sagt:

        Hallo
        mein Schatz hat sich fuer die Uni in Tiflis/Georgien entschieden, weil ich da leichter eine Aufentaltsdgenehmigung bekomme. Bzw, brauch ich da kein Visum. Er ist eher hellhaeutig, daher duerfte das nicht so das Problem bei uns sein.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.