Ein Bein, ein Bett und ein Abschied auf Deutsch – eine Nacht im ukrainischen Zug

Es ist 6.57 Uhr, als der Krieg so nahe kommt wie nie zuvor. Ich liege in einem ukrainischen Nachtzug in einem Viererabteil in der unteren Etage. Es riecht nach Kohle, durch die der Zug angetrieben wird. Der Mann im gegenüberliegenden Bett hat seit meinem Zustieg um kurz nach 5 keinen Mucks von sich gegeben. Doch nun dreht er sich um und es stellt sich heraus: Er hat kein Bein.

Der junge Mann mit den dunklen Haaren, der etwa in meinem Alter ist, zieht kurz die graue Hose nach oben und die Prothese glänzt mir entgegen, die seinen Oberschenkel mit dem Schuh verbindet. Er zieht seine Tarnfleck-Jacke an und packt die Sachen zusammen, um sich für den Ausstieg vorzubereiten.

Wie ich später erfahre, handelt es sich bei dem jungen Mann um alles andere als einen Einzelfall. Allein in einem Lemberger Krankenhaus soll es bislang 16.000 Amputationen von Kriegsversehrten gegeben haben. Mir stellen sich die Haare zu Berge. Ich habe so viele Fragen: Wie kam es dazu, dass er sein Bein verloren hat? Wie fühlt sich das an? Wie hat er vor dem Beginn des Kriegs sein Leben verbracht?

Aber mir verschlägt es die Sprache, mich überfordert die Situation, auch weil ich in der Nacht fast keinen Schlaf abbekommen habe. War es wirklich eine gute Idee, in die Ukraine zu reisen? In einen Zug zu sitzen mit Endstation Saporischschja, wo sich ein umkämpftes Atomkraftwerk befindet? Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie ein Flugzeug das Kraftwerk beschießt und dieses explodiert.

Warum ich in die Ukraine fahre

Ich bin kein Draufgänger und hatte mir gut überlegt, ob ich tatsächlich in die Ukraine fahre. Doch wie das Schicksal so will, traf ich Werner Nuber vom Verein „Brücke nach Horishni Plavni“ in den vergangenen Monaten immer wieder – scheinbar zufällig – und jedes Mal fragte er mich, ob ich nicht bei einer Hilfsfahrt nach Horishni Plavni dabei sein möchte. Dies ist seit September 2024 die Solidarpartnerstadt von Friedrichshafen. Als Reporter in der Stadt am Bodensee hatte ich Werner Nuber kennengelernt und über den Einsatz des Vereins für die Ukraine berichtet.

Für Anfang Mai kam keine Hilfsfahrt zustande. Stattdessen eine Art Bildungsfahrt in Sachen kommunaler Wohnungsbau – was ein äußerst wichtiges Thema für alle ukrainischen Städte ist. Schließlich soll das Land wiederaufgebaut werden, wenn der zerstörerische Krieg zu Ende ist. Aber auch jetzt schon gibt es im Westen des Landes mehrere Bau- und Renovierungsprojekte, um dringend benötigten Wohnraum zu schaffen.

Also reisten Werner Nuber, Jürgen Schipek und ich nach Lemberg und Ivano-Frankivsk, um Unterkünfte für Binnenvertriebene aus dem Osten des Landes zu besuchen und mit Verantwortlichen zu sprechen. Jürgen ist Experte für kommunalen Wohnungsbau und hat die Vision, diesen in der Ukraine in großem Stil voranzutreiben.

Mein Ziel: Die Ukraine kennenzulernen, mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen, letztlich auch das überaus komplexe Thema des Wohnbaus in der Ukraine zu verstehen – und natürlich darüber zu schreiben.

Mehr als zwölf Stunden im Auto

Und so geht es am frühen Morgen in Ravensburg los, wo mich Werner Nuber abholt. Gemeinsam fahren wir Richtung Schwäbische Alb, wo Jürgen Schipek Geschäftsführer der Kreisbau­gesellschaft Heidenheim ist. Zuvor leitete er die Städtische Wohnungsbaugesellschaft in Friedrichshafen. 

Die Autofahrt von der Schwäbischen Alb nach Przemyśl in Polen nahe der ukrainischen Grenze sollte rund zwölf Stunden dauern. Wir kommen überraschend schnell voran, können gegen 20 Uhr noch eine entspannte Pause im McDonald’s in Przemyśl machen.

Die polnische Grenzkontrolle am Bahnhof von Przemyśl funktioniert wie am Flughafen, wo die Reisenden am Schalter ihren Reisepass vorzeigen müssen. Die Ukrainer kontrollieren wiederum im fahrenden Zug – sehr gründlich. Wir spekulieren, dass im Nachbarabteil Friedrich Merz, Emmanuel Macron & Co. sitzen, die sich zur selben Zeit wie wir auf dem Weg in die West-Ukraine befinden. Allerdings tatsächlich in einem Sonderzug, wie eine kurze Recherche zeigte.

Wir steigen mitten in der Nacht in Lemberg um in den Zug Richtung Saporischschja, müssen uns dafür aber trennen. Denn wir haben nur noch Plätze in separaten Wagons bekommen. „Eine Zugbuchung in der Ukraine ist wie Lottospielen“, pflegt Jürgen Schipek zu sagen, der dort regelmäßig unterwegs ist. Das heißt, in der App der Ukrainischen Eisenbahngesellschaft UZ werden mögliche Verbindungen nur gelegentlich angezeigt. Einige Züge sind lediglich für Frauen und Kinder.

Immerhin konnte Jürgen noch drei Tickets ergattern, wenn auch in unterschiedlichen Abteilen. Eine junge Schaffnerin kontrolliert mein Ticket. Sie ist für Passagiere des Waggons Nummer 2 zuständig. Dann sehe ich einen Kessel, an dem man sich offensichtlich heißes Wasser für Tee zapfen kann. In meinem Abteil steht wiederum ein Glas mit metallischem Griff für den Tee. All das erinnert mich an das Bahnfahren in Russland, doch wie laut darf man das in der Ukraine sagen, die derzeit nichts mit Russland am Hut haben möchte?

Eine Überraschung zum Schluss

Todmüde stelle ich meine Sachen ab und suche Bettwäsche, die es nicht gibt. Also nutze ich eben meine Jacke als Kissenbezug. Nach zwei unruhigen Stunden sind wir am Ziel: Ivano-Frankivsk, Hauptstadt der gleichnamigen Oblast südlich von Lemberg. Der offenbar im Krieg verwundete junge Mann in meinem Abteil packt seine Dinge zusammen – auf eine erstaunlich agile Weise dafür, dass er kein Bein hat. Ich habe bisher nichts gesagt, und doch muss ich irgendwie meine Herkunft verraten haben. Als der Mann das Abteil verlässt, murmelt er auf Deutsch: „Tschüss.“

Was ich außerdem in der Ukraine erlebt habe, erfahrt ihr in einem weiteren Beitrag.

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3 Antworten

  1. Petra Müller sagt:

    Lieber Simon,
    wie anschaulich und interessant du schreibst. Habe mich richtig gefreut auf diese Weise von dir zu hören und so einen echten Blick auf deinen Tagesablauf auf dem Weg in die Ukraine zu bekommen.
    Würde mich sehr freuen, wenn du weiter erzählst und darüber berichtest.
    Hoffentlich geht es dir auch sonst soweit gut.
    Dann grüsse ich dich von Herzen und pass auf dich auf, petra

    • Liebe Petra,
      vielen Dank, ich freue mich sehr über deine liebe Rückmeldung zu meinem Beitrag! Und ja, es folgen auf jeden Fall weitere Geschichten auf unterschiedlichen Kanälen 🙂 Ich hoffe auch, dass es dir und deiner ganzen Familie gut geht!
      Liebe Grüße und bis demnächst, Simon

  2. […] Nach einer kurzen Nacht im Zug beginnt unser erster Tag in der West-Ukraine. Gemeinsam mit Werner Nuber und Jürgen Schipek bin ich hier, um Wohnungsbauprojekte zu erkunden. Ivano-Frankivsk ist unser erster Stopp, eine Stadt, die viele Binnenvertriebene aufgenommen hat. […]

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