Ravensburg war eine Pille gegen das Heimweh, Moskau dagegen stressiger Dschungel – was ist die Lösung? Schnell zurück in mein neues trautes Heim in Voronež. Doch dieser Weg bot einige Hindernisse und Überraschungen.
Weihnachten entspannt mit der Familie verbringen, das war mir wichtig. Doch wenn ich russischen Bekannten davon erzählte, kamen Missverständnisse auf: Sie verstanden es meist als „das neue Jahr mit der Familie verbringen“ – denn in Russland wird das neue Jahr so ähnlich wie bei uns Weihnachten gefeiert. Und den Silvesterabend sollte ich tatsächlich in Voronež verbringen und dabei eine warmherzige Rede Putins zu Ohren bekommen.
Die „siegreiche“ Airline „Pobeda“ verlegte meinen mittäglichen Flug von Moskau nach Memmingen am 21. Dezember offenbar aus Kostengründen auf acht Uhr morgens. So musste mein Uber-Fahrer schon um 5.30 Uhr anrücken. Einen netten Herrn entdeckte ich auf dem Fahrersitz, als ich einstieg. Die ganze Nacht habe er durchgearbeitet, erzählte der Mann. Ihm sei ein Enkelkind geschenkt worden, deshalb müsse er Geld verdienen. Dies sagte er ohne jegliches Wehklagen, sondern mit Stolz und Motivation.
In meiner Vorlesung über internationales Recht an der Uni Voronež hatte ich gelernt, dass die Russische Föderation und Weißrussland eine „vereinigte Staatlichkeit“ hätten. Nun am Flughafen konnte ich diesen abstrakten Terminus in der Praxis sehen, denn an der Passkontrolle gab es einerseits Schalter mit kurzen Schlangen für Bürger und Bürgerinnen (Weiß-)Russlands und andererseits lange Schlangen bei „all passports“.
Im Flugzeug kam ich mit meinem Nebensitzer Hans-Dieter ins Gespräch, der badischen Wein in Russland verkauft. Abwechselnd befindet er sich zwei Wochen in Deutschland und in Moskau. Nur in Deutschland zu leben fände er langweilig, zudem störe ihn Merkels Flüchtlingspolitik. In Russland dagegen hätte er tolle Freunde und ein abenteuerliches Geschäftsleben.
Ins Gespräch vertieft kam die harte Landung sehr überraschend – so hart, wie ich sie noch nie in meiner Karriere als Reisender erlebt hatte. Hätte ich aus dem Fenster geschaut, so hätte ich sowieso nichts gesehen, denn der Nebel versperrte die Sicht. Hans-Dieter bemerkte, dass bei einem solchen Aufprall auch gut die Reifen hätten Platzen können. Der Eindruck der Unsicherheit wurde verstärkt, als wir im Flughafen die Durchsage vernahmen, dass das nächste Flugzeug aus London bis auf unbestimmte Zeit aufgrund der schlechten Wetterbedingungen nicht landen könne.
Ja, in Moskau waren die Schlangen an der Passkontrolle nicht kurz, doch hier warteten wir fast eine Stunde, um ein „Servus“ an der Kontrolle zu hören. Meine arme Mama (oder, wie man in Russland sagen würde, „Ma“) musste ohne Zeitung oder andere Beschäftigungsmöglichkeiten ewig warten, ihren Sohn endlich in die Arme schließen zu können.
Eine Pille gegen Heimweh
In Ravensburg-Weingartshof angekommen, gab es ein großes „Hallo“, in den nächsten Tagen ein freudiges Wiedersehen mit Verwandten und Freunden und selbstverständlich die heimeligen Traditionen der Weihnachtsfeiertage. Trotz aller Weltbürgerschaft und Flexibilität ist es viel wert, einen Ort zu haben, an dem man bedingungslos willkommen ist. Hier muss ich mich nicht groß erklären, sondern kann in meiner Muttersprache frei heraus sagen, was ich auf dem Herzen habe – und werde verstanden.
Dieser (wenn auch nur einwöchige) Aufenthalt war einmal Auftanken für die nächsten acht Monate in der Fremde und wie eine Pille, die künftiges Heimweh zwar nicht komplett verschwinden lässt, aber doch in geringeren Dosen auftreten lässt.
Als die Metro einfach stehenblieb
Im Flugzeug zurück nach Moskau war ich zusammen mit meinem Bruder Jacob und meinem Freund Jonas unterwegs, denen ich Russland zeigen sollte. Neben mir allerdings saß der 62-jährige Alexander. Eine graue Halbglatze säumte sein faltenreiches, aber mit Erfahrung und Witz ausgestattetes Haupt. Dieser Mann sieht viel älter als mein Vater aus, doch ist jünger – und hat schon Enkelkinder. Was soll man dazu sagen?
Alexander ist russischer Aussiedler mit deutscher Mutter, der nach der Wende nach Deutschland gekommen war. Seitdem sei er nicht mehr nach Russland gefahren und auch sonst noch nie in Moskau gewesen. Jetzt besuche er Verwandte seiner zweiten, neben ihm sitzenden Ehefrau.
So kam die bizarre Situation zustande, in der ich einem Russen (oder Deutsch-Russen? Jedenfalls ist er in Russland großgeworden) seine eigene Hauptstadt erklärte. Was ist sehenswert? Wie sind die Preise? Was sollte man sonst beachten? Solche Dinge gab ich ihm nach bestem Wissen und Gewissen mit.
Vom Flughafen Vnukovo zum Bahnhof Paveleckaja sollte es eine halbe Ewigkeit dauern. Ein wirklicher Nachteil der Millionenstadt kam zum Vorschein: die langen Distanzen. Das hätte ich Alexander sagen sollen, grübelte ich noch, als ich bemerkte, dass die Metro von der Station einfach nicht weiterfuhr. Warum nur? Wir waren spät für den Nachtzug nach Voronež dran! Eine Antwort bekam ich nicht, doch gefühlte zehn Minuten später ging es weiter. Dies half leider nicht, den Zug verpassten wir. So musste als Alternative ein dreizehnstündiger (!) Nachtzug herhalten.
Mit Putin ins neue Jahr
In Voronež veranstaltete ich eine kleine Silvesterfeier. Wie war das möglich, lebe ich doch bei meiner Gastmutter Tatjana? Nein, nicht mehr. Ich zog schon vor Weihnachten in eine eigene Wohnung um. Kurz gesagt, lebte ich schon seit dem Alter von 19 Jahren alleine und war es gewohnt meinen Alltag, sei es Essen, Besuche und so weiter vollkommen selbst zu bestimmen. Dies fehlte mir bei meiner lieben Gastmutter, dies habe ich glücklicherweise nun in meiner Wohnung.
Zurück zur Silvesterfeier: Hier kamen meine Freunde aus allen Herren Länder, wie gewöhnlich mit großzügiger Verspätung, zusammen. Zu Essen brachten sie unter anderem den russischen Vinaigrette-Salat, Hähnchenschenkel, eine polnisch-russische Variante des Oliviersalates und ein Himbeer-Dessert mit. Jonas, Jacob und meine Wenigkeit bereiteten schwäbische Leckerbissen in Form von überbackenen Seelen und Maultaschen zu – selbstverständlich an die Shopping-Möglichkeiten im Norden Voronežs angepasst.
Der Kultfilm „Dinner for One“ kam bei meinen internationalen Gästen gut an – sie hatten ihn noch nie gesehen. Mein Buddy Olga, die auch dabei war, regte an der neujährlichen russischen Tradition zu folgen und den Film „Ironie des Schicksals“ anzuschauen. Kurz vor Mitternacht schauten wir dann, wie alle aufrechten Bürger der Russländischen Föderation, die pathetische Rede Vladimir Putins an und waren damit in bester Stimmung, um motiviert ins neue Jahr zu starten.
Hier die fünfminütige Rede Putins mit anschließender Nationalhymne. Man kann sie auch mit deutschen Untertiteln ansehen.
Einen KGB-Orden, bitte!
Das Jahr begann für uns drei damit, Moskau zu erkunden, bzw. für mich, einen mehr oder weniger kundigen Stadtführer zu mimen. Dabei waren natürlich die Klassiker wie Roter Platz, Kreml und Metro. Doch auch an ausgefallenere Orte führte ich Jacob und Jonas. Einen Tipp möchte ich gerne an meine werten Leserinnen und Leser weitergeben: Besucht die Izmajlovskij-Vernissage, einen fantastischen Kunsthandwerks-, Floh- und Trödelmarkt! Hier findet sich alles von alten KGB-Orden über Putin-Matrjoschkas bis hin zu schön verzierten Tassen. Aber Achtung: Für Ausländer sind die Preise oft doppelt so teuer als eigentlich angemessen. Hierzu rate ich, zunächst einen ersten Spaziergang über den Markt zu unternehmen, zu beginnen mit den Händlern über die Preise zu sprechen, doch noch nichts zu kaufen. Dann empfehle ich, in einem Restaurant, das sich vom Eingang aus gesehen am anderen Ende des Marktes befindet, eine warme Suppe zu schlürfen. Zuletzt kann man noch einmal die begehrten Gegenstände anschauen und mit den Verkäufern einen noch niedrigeren Endpreis aushandeln.
Früh am Morgen des sechsten Januars musste ich mich von meinem Bruder und Jonas verabschieden. Die Pflicht in Deutschland und Österreich ruft. Ich selbst konnte noch länger schlafen, doch das war auch die einzige positive Nachricht des Morgens.
Die Leitungen waren im gesamten Haus eingefroren, so gab es im Hostel kein Leitungswasser. Nichts zu Trinken, kein Zähneputzen, keine gemütliche Dusche. Die Toilette konnte, bzw. musste, man aber doch noch nutzen! Für dieses Erledigen meiner dringenden Notdurft erntete ich einen bösen Blick des Hostelmitarbeiters. Doch was sollte ich sonst tun? Что поделать?
Burger als Bomben
Für die Fahrt zurück nach Voronež hatte ich einen günstigen Bus gebucht. Einziger Nachteil: Der Busbahnhof mit dem Namen „Rotgardist“ ist weit außerhalb Moskaus gelegen. Noch schnell etwas zum Frühstück in der Umgebung des Hostels kaufen. Und tatsächlich, da war ein Bäcker. Doch etwas war merkwürdig. Es ging einige Treppenstufen abwärts. An den Wänden hingen Teppiche. Es war orientalische Musik zu hören. Wo war ich hier gelandet? In der Tat, dort lagen hochpreisige Backwaren aus, eine davon in der schönen Form eines Fisches. Ein Viertel des Fisches nahm ich als Frühstück mit. Leider hätte ich genauer hinschauen sollen, denn im Gebäck war tatsächlich Fisch drin, der für mich nur mit großer Mühe zum Frühstück genießbar war.
Die Metro fuhr und fuhr und fuhr. Die halbe Stunde Puffer schmolz dahin. Ich rannte zum Metroausgang. Eine Dame zeigte mir den Weg zum Busbahnhof. Rennen, rennen, rennen. Noch fünf Minuten. Schnell noch zu Burger King, denn ohne Essen würde ich die fünfeinhalb-stündige Fahrt nicht überstehen. Dann die Straße überqueren. Natürlich war der nächste Überweg weit weg und die Straße voll von Autos. Doch ich wagte die Überquerung. Man muss nur dominant genug erscheinen, dann halten die Automobile schon von selbst an.
Dieser Busbahnhof war komisch. ich kam ohne die übliche Sicherheitskontrolle hinein. Da waren kaum Menschen und fast nur Stadtbusse. Ach so, ich hatte den kleinen Eingang in den eigentlichen Bahnhof übersehen! Hier wartete ein Sicherheitsmann, dem ich erklärte, dass ich spät dran sei. Dies hinderte ihn nicht daran, mich besonders gründlich zu überprüfen und einen Witz über meine Burger zu reißen, die doch bestimmt Bomben seien.
Die kleine Bahnhofshalle war übervoll mit Menschen. Zu meiner linken wurde in der Billet-Schlange gewartet, zu meiner rechten für 150 Rubel Šaurma (eine Art Döner) an Hungrige verteilt. Draußen standen wenige Busse, verzweifelt suchte ich nach „Voronež“, doch fand nichts. Angestellte fand ich nicht, nur einen älteren Herrn, der mir riet, ruhig zu bleiben und doch nichts wusste. Was soll’s? Mein Bus ist sowieso vor fünf Minuten nach Plan abgefahren. Genervt wollte ich schon eine neue Fahrkarte kaufen.
Doch da war sie endlich, eine Mitarbeiterin des Bahnhofs. Der Bus nach Voronež? Wie heißen Sie? Simon Lukas Federer? Sie habe ich schon gesucht. Kommen Sie mit, der Bus hat auf Sie gewartet, sagte sie auf eine bestimmte, aber zugleich zarte, großmütterliche Weise. Das war die Überraschung des Tages. Dass ein Bus fünf Minuten auf einen Passagier wartet, das ist mir noch nie im pünktlichkeitsversessenen Deutschland widerfahren.
Im Bus war es ganz schön heiß. Ich habe das Gefühl, dass in Russland allgemein gilt: Lieber zu viel heizen, als zu wenig. Bei Außentemperaturen von Minus 30 Grad ist das verständlich. Gemütlich verspeiste ich meinen Whopper. Dann wurde uns Fahrgästen ungefragt drei schlecht produzierte moderne russische Filme über den Zweiten Weltkrieg inklusive bösen Deutschen, bzw. dem Synonym dafür, Faschisten, gezeigt. Ich versuchte nicht aufzufallen.
Eines der „Meisterwerke“ stammte von der Produktionsfirma „21. Jahrhundert“. Schon mit einem solchen Namen wollen die Russen offenbar Amerika mit ihrem „20th Century Fox“ übertrumpfen.
Auf zum Café „Schloss“
Ich hatte herausgefunden, dass der Bus in Voronež am Café „Zamok“ (Schloss) halten soll. Auf der Google Maps-Alternative 2gis sah es so aus, als ob ich direkt vom Café mit der Marschrutka nach Hause fahren könnte. Doch dann kamen gleich zwei Schocks auf einmal. Auf 2gis beobachtete ich, wie unser Bus fuhr: Er bog von der Autobahn nicht nach rechts nach Voronež ab, sondern nach links. Ich fragte die anderen Fahrgäste, was los sei. Die antworteten, ich hätte dem Fahrer sagen sollen, wenn ich in Voronež aussteigen wollte.
Dann hielt unser Fahrzeug auf einmal am Straßenrand. „Zamok“ verkündete unser Chauffeur kurz und bündig am Mikrophon. Ehrlich gesagt hatte ich mir ein Café mit dem Namen „Schloss“ nicht als Straßenimbiss vorgestellt. Wichtiger war aber die Frage, wie zur Hölle ich von dort nach Voronež kommen sollte. 2gis bot Möglichkeiten an, doch das würde ewig dauern.
Die Passagiere, die ich vorher nach der Lage gefragte hatte, entpuppten sich als äußerst hilfsbereit. Sie präsentierten mir eine Mutter und ihren Sohn, die ebenfalls in den Norden Voronež mussten und schon ein Taxi bestellt hatten. Diese netten Menschen verlangten nicht einmal von mir, etwas für die recht lange Fahrt zu bezahlen.
So ging eine Reise, ein kleines Abenteuer zu Ende. Jetzt kann der Alltag wieder einkehren, doch ich glaube, langweilig wird es mir in Russland nie werden.
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