Ich sitze im Nachtbus von Friedrichshafen nach Leipzig. Ein Frau vermisst ihre Apple-Geräte und eine andere Frau verhält sich auffällig. Eigentlich sitzt letztere in diesem zweistöckigen Bus recht weit vorne, aber jetzt ist sie in meiner Nähe. Die Frau sitzt auf der Treppe in der Mitte des Busses und wartet offenbar darauf, bis die Toilette frei wird. Und so höre ich ein Gespräch mit, das sie mit einem Bekannten auf Russisch hat – eine Sprache, die ich glücklicherweise verstehe.
Aber worüber sie spricht, macht mich überhaupt nicht glücklich und ist ein Grund, warum ich kaum Schlaf in dieser Nacht abbekomme. Die Frau spricht davon, dass ihre Tochter gestorben ist, mit nur sieben Monaten. Sie wirkt verzweifelt, traurig. Warum sie tot ist, verstehe ich nicht.
Ukrainisch oder Deutsch?
Ich bin diesmal stiller Beobachter, stelle keine Fragen wie in meiner Rolle als Journalist. Es ist wie ein leicht kafkaeskes Theaterstück, das in diesem Bus aufgeführt wird. Eine Geschichte, die ich nicht recht verstehe – und von der ich denke, dass sie schon vorbei ist, denn nun herrscht für einige Minuten Ruhe im Bus.
Aber dann gerät die Frau offensichtlich in Streit mit dem Busfahrer. Wenn ich es richtig sehe, ist er Ukrainer und sie Russin oder Russland-affine Ukrainerin. Er spricht mit ihr auf Ukrainisch, sie sagt erregt auf Deutsch mit russischem Akzent: „Was ist das für eine Sprache? Ich verstehe diese Sprache nicht!“
Ich vermute, dass der Krieg zwischen Russland und der Ukraine zwischen diesen beiden Menschen ausgetragen wird. Vielleicht ist ihre Tochter auch in diesem Krieg getötet worden?
„Das ist alles meine Schuld“
Kurz darauf, etwa um halb drei Uhr nachts kommt die Durchsage des Busfahrers: Wir müssen anhalten, die Polizei kommt. Ich glaube, an diesem Punkt hat keiner im Bus mehr geschlafen. Und alle fragen sich, was eigentlich passiert ist. Hat die Frau etwa das MacBook der anderen Frau gestohlen und das ist nun herausgekommen? Oder gab es einen Konflikt zwischen dem Busfahrer und der Frau? Jedenfalls schreit sie herum: „Das ist alles meine Schuld.“
Der Bus hält auf einem Parkplatz in der Nähe von Aalen an, ein Polizist betritt den Bus. Und befragt Zeugen, die in der Nähe der Frau gesessen haben. Sie selbst befindet sich außerhalb des Busses. Ich kann leider nichts hören, weil ich so weit weg sitze. Aber für mich sieht es danach aus, dass die Frau die elektronischen Geräte gestohlen hat und deshalb die Zeugen in ihrem Umfeld eine Aussage abgeben müssen.
Theatergast statt Journalist
Nach einer halben Stunde setzt der Bus seine Fahrt in Richtung Norden fort. Die Frau wart nie wieder gesehen, die Beamten nehmen sie mit. Im Nachtbus kehrt Ruhe ein.
Das waren ein paar merkwürdige Stunden in diesem Nachtbus. Mit enormer Neugier verfolgte ich die Geschehnisse, aber was passierte, war nicht so ereignisreich als dass es sich wirklich gelohnt hätte, in meine Rolle als Journalist zu schlüpfen. Warum auch immer die Frau abgeführt wurde hat mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen großen Nachrichtenwert. Ehrlicherweise war ich auch einfach müde und wollte lieber schlafen statt bei den Polizisten nachzufragen, die mich wohl sowieso nur auf die Pressestelle verwiesen hätten.
Stattdessen war ich wie ein Gast in einem Theater und erlebte eine reale und teils tragische Geschichte mit. Wichtig finde ich die Erkenntnis, dass ich nicht alles wissen muss. Manchmal kann man Erlebnisse auch einfach so für sich stehen lassen, ohne alle Details aufzuklären. Wie langweilig wäre das Leben auch ohne Geheimnisse…
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