Klischees über Osteuropa – ein Mittel der eigenen Identitätsfindung?

Osteuropa als kontrovers wahrgenommener Ort

Im Zeitalter von Globalisierung sind Auslandsaufenthalte unabdingbar. So ist es auch für mich in meinem Studium ein wichtiges Ziel, die gewohnten Grenzen der eigenen Kultur zu verlassen und meinen „Kulturhorizont“ zu erweitern. Bei Freiwilligem Sozialen Jahr oder Auslandssemester lauten die Ziele zumeist Frankreich, Vereinigte Staaten oder Australien. Die Reaktion von Deutschen, dass ich nach dem Abitur einen Freiwilligendienst in Ungarn absolvieren würde, war sehr binär: Literatur und Kultur des Landes wurden bisweilen glorifiziert, meistens kam aber die Frage: Was willst du denn dort?

Der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan nannte die Sowjetunion einst "evil empire", also "Reich des Bösen.

Der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan nannte die Sowjetunion einst „evil empire“, also „Reich des Bösen.

Nun, da ich Politikwissenschaft und Slavistik studiere und mich stärker auf Russland ausrichten will, finde ich diese Dualität in westlichen Medien in Bezug auf dieses Land wieder: Der russische Schriftsteller Fedor Dostoevskij wurde bereits im 19. Jahrhundert zum Sprachrohr der „russischen Seele“ stilisiert. Der frühere US-Präsident Ronald Reagan bezeichnete die Sowjetunion hingegen als „Reich des Bösen“. Als die russische Weltraumstation „Mir“ 2001 kontrolliert zu Erde stürzte, sprach die Boulevardzeitung B.Z. von „Russenschrott“, der auf Deutschland niedergehen könnte.

Wir sehen also, dass der Russland- und Osteuropa-Diskurs in Westeuropa von polaren und emotional stark aufgeladenen Klischees und Stereotypen geprägt ist. Wie aber kommen solche Stereotype zustande und welche Funktion haben sie?

Das „Andere“ als Mittel der eigenen Identitätsfindung

Um diese Frage zu beantworten, kann eine Betrachtung auf der Metaebene unter Zuhilfenahme des Sozialkonstruktivismus fruchtbar sein. Annahme dieser Theorie ist es, dass gesellschaftliche Normen und Werte nicht für allemal gegeben sind, sondern diskursiv hervorgebracht werden und als solche einem historischen Wandel unterliegen.

Meine These lautet: Westeuropa definiert sich in Bezug auf Osteuropa, als das „Andere“ Osteuropas. Identitätsbildung ist ein reziproker Prozess. Dem russischen Kulturwissenschaftler Boris Groys zufolge bedeutet dies, dass sich auch Osteuropa und insbesondere Russland seit dem 18. Jahrhundert als das „Andere“ des Westens definiert hat.

Einmal verfasste und gefestigte Klischees lassen sich nicht einfach aus dem kollektiven Gedächtnis einer Gesellschaft ausradieren.

Einmal verfasste und gefestigte Klischees lassen sich nicht einfach aus dem kollektiven Gedächtnis einer Gesellschaft ausradieren.

Laut Larry Wolff war in Europa die geistige Grenze tausend Jahre lang zwischen Norden und Süden, geographisch verwirklicht durch die Alpen. Obwohl Osteuropa eine heterogene Region ist, wurde es vom Westen im 18. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung „erfunden“, das heißt als exotische „dunkle Kehrseite“ imaginiert. Eines der wichtigsten Kriterien hierfür war Zivilisation, wobei Osteuropa als „rückständig“ betrachtet wurde.

Dies geschieht etwa im sog. „Slavenkapitel“ von Johann Gottfried Herders geschichtsphilosophischem Werk von 1791, in dem die Slaven als passives, friedliches landwirtschaftlich arbeitendes Volk, das aber durch die Unterdrückung durch Germanen und Tataren grausam geworden ist. In neuerer Vergangenheit, im 20. Jahrhundert, wurde die geistige Landkarte mit der neuen Grenze nicht mehr zwischen Nord und Süd, sondern zwischen Ost und West im „Ostblock“ politisch manifestiert.

Dies sind kulturhistorisch konstituierte Reflexe der eigenen grenzüberschreitenden Identitätssuche. Sie lassen sich auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht einfach ausradieren, sondern sind tief im kollektiven Gedächtnis Westeuropas verankert. Dabei sind Begriffe wie „Zivilisation“ relativ und müssen stets aus dem jeweiligen Kontext heraus erklärt werden.

Vor diesem Hintergrund können wir schließlich festhalten, dass die Klischees keine absoluten Wahrheiten, sondern immer kulturelle Konstruktionen sind, die eine wichtige Rolle in Prozessen der Identitätsfindung sowohl im Westen als auch in Osteuropa spielen.

Ziel des Auslandsaufenthalts: Erwerben von interkultureller Kompetenz

In diesem Sinne möchte ich meine Reise nach Russland gestalten und dabei meine interkulturelle Kompetenz stärken, die für eine Berufstätigkeit in der globalisierten Welt unerlässlich ist. Das heißt, Klischee-Kategorien auf den Grund zu gehen und sich für die Prozesse der Eigen- und Fremdwahrnehmung zu sensibilisieren. Nur so kann man gegenüber den polaren Zuschreibungen in der Presse adäquat Stellung beziehen und zwischen Russland und Europa trotz politischer Auseinandersetzungen vermitteln.

"Tief und geheimnisvoll ist die russische Seele. Schwer und träumerisch, widersprüchlich und irrational, melancholisch, aber auch unruhig und empfindsam."

„Tief und geheimnisvoll ist die russische Seele. Schwer und träumerisch, widersprüchlich und irrational, melancholisch, aber auch unruhig und empfindsam.“

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie man einen Aufenthalt in Osteuropa konkret planen kann, um Stereotypen aufzudecken. Ich plane, in Voronež bei einer Gastfamilie zu wohnen, um den russischen Alltag aus unmittelbarer Nähe kennenzulernen und meine Russischkenntnisse im Bereich der Konversation und Umgangssprache zu stärken. Außerdem möchte ich auch bei meinem Aufenthalt in Russland an meine Tätigkeit als Lehrer für Deutsch als Fremdsprache anknüpfen und mich in diesem Bereich engagieren, um – wie oben erwähnt –  als Vermittler der deutschen Sprache und Kultur zu wirken. Ich möchte meine geplante Reise auch zum Anlass nehmen, verschiedene Teile Russlands und Osteuropas zu bereisen, um meine „Kulturgeographie“ zu erweitern und ein differenzierteres Bild vom Land zu bekommen.

Was haltet Ihr von diesen Ideen? Welche weiteren Vorschläge habt Ihr?

Für diejenigen, die schon längere Auslandsaufenthalte hinter sich haben: Welche Rolle spielte die dargestellte Problematik für Eure Projekte?

 

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3 Antworten

  1. Ege Hu sagt:

    Super. Allerdings heißt das Volk Tataren, nicht Tartaren. Sonst alles prima, weiter so ! 🙂

  2. […] dieser Stelle sollte man wieder einmal den Kulturwissenschaftler Boris Groys verweisen, der davon ausgeht, dass Russland in einem […]

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