Ich sitze im Zug – nicht von Ravensburg nach Friedrichshafen, nicht von Freiburg nach Berlin, sondern vom Kasaner Bahnhof in Moskau nach Voronež. Online konnte ich eine sogenannte „Platzkarte“ ergattern, man könnte auch sagen: eine Fahrkarte für die dritte Klasse. Viele Menschen sind in diesem Tag- und Nachtzug mit dem Ziel Anapa am Schwarzen Meer. Es ist eng – so kommt man sich auch beim gemeinsamen Essen und in Gesprächen näher. Sergej und Valentina etwa, meine Nachbarn, versorgen mich mit Tee und allerlei Leckereien. Doch von vorn. Wie kam es eigentlich dazu? Ein Rückblick.
Nach dem Abitur verbrachte ich ein Jahr in Tata, Ungarn, um im Rahmen des „kulturweit“-Programms des Auswärtigen Amts und der Deutschen UNESCO-Kommission als Assistent den Deutschunterricht am örtlichen Eötvös József Gimnázium zu unterstützen. Über diesen Aufenthalt berichtete ich auf meinem Blog „Gulasch und ich“. Die Artikel sind auch auf dieser Website hochgeladen.
Mein Studium der Politikwissenschaft nahm ich in der südlichsten Großstadt Deutschlands, Freiburg, auf. Nach meinem Jahr in Ungarn dachte ich zunächst, dass ich mich eher anderen Weltregionen als Osteuropa zuwenden würde. Doch ich merkte, dass ich mehr über den Osten erfahren wollte und nahm deshalb Slavistik als Nebenfach. Hier lerne ich viel über die Geschichte, Kulturen und Literaturen der Slaven. Als Schwerpunkt wählte ich Russland und die russische Sprache.
Ungarn hat mich zum „Traveler“ gemacht. Damit war eigentlich klar, dass ich während des Studiums wieder ins Ausland gehen würde – die Frage war nur, wohin. So kam mir das bilaterale Abkommen zwischen den Unis in Freiburg und Voronež*, einer russischen Stadt zwischen Moskau und der Ukraine mit ungefähr einer Millionen Einwohnern, sehr gelegen. Ich entschied mich, ein ganzes Jahr in Russland zu verbringen.
Der Countdown läuft
Die letzten Tage im Breisgau und in Ravensburg waren wahrlich schön: In Freiburg gab es eine kleine Abschiedsfeier. Mein Russisch-Tandempartner schenkte mir einen Stab-Wasserkocher, der auf Reisen in Russland, wo das Leitungswasser nicht ohne Weiteres genießbar ist, sehr nützlich sei. Von meiner „Mensa Gang“ bekam ich einen Fettnäpfchenführer für Russland, der mich vor allzu großen kulturellen Misstritten bewahren soll. Zurück in Oberschwaben genoss ich ein letztes Mal das kühle Nass des Bodensees. Freunde und Familie taten alles, um mir zu zeigen, wie schön doch die Heimat sei.
Eine wenig siegreiche Fluglinie
Der 25. August näherte sich unaufhaltsam. Ich sollte mein Zeug packen und mit der russischen Billig-Fluglinie „Pobeda“ drei Stunden lang von Memmingen nach Moskau fliegen. Dort angekommen, stieg die Aufregung. Würde alles rund laufen? Würden sie meine Tonnen von Gepäck und mein russisches Visum akzeptieren? Dann kam der Schock. Meine Mutter sagte, auf der Anzeigetafel sei kein Flug nach Moskau ausgeschrieben. Wie kann das sein? Ich schaute noch einmal auf mein Ticket – kein Zweifel, ich hatte den Flug für den 25. August gebucht. Ich hakte verzweifelt an verschiedenen Stellen nach und bekam letztlich als Antwort, dass der Flugplan geändert und mein Flug auf den nächsten Tag umgebucht worden sei. Und das, ohne mich zu informieren? Das passiere „Pobeda“-Passagieren öfters, so die Dame am Schalter.
„Pobeda“ bedeutet auf Deutsch „Sieg“. Mein Tandemparter meinte noch, dass ich als „Pobeda“-Fluggast eigentlich einen patriotischen Bonus bekommen müsste. Diese Aktion der Airline war allerdings wenig siegreich. Ob ich noch ein russischer Patriot werde, ist nun einmal mehr fraglich.
Zweiter Versuch
Wieder nach Hause zu fahren, war merkwürdig. Innerlich hatte ich schon Abschied genommen – doch nun kam ich zurück, als ob eine sehr lange Zeit vergangen wäre und ich bereits mein Jahr in Russland verbracht hätte.
Am nächsten Tag klappte am Flughafen glücklicherweise alles. Der Polizist an der Passkontrolle fragte mich, ob ich verwandt oder verschwägert sei. Ich stutzte zunächst. Natürlich meinte er Roger F. Ich antwortete ihm, dass dies schön wäre.
Die Flugbegleiterinnen machten sich nicht die Mühe, ihre Gäste in einer Fremdsprache anzusprechen. Kein Wunder, denn im Flugzeug war ich gefühlt der einzige Deutsche. Während des Fluges rief ein Kind „Rossija, Rossija!“ Oh Gott, ein solcher russischer Nationalismus fühlt sich nicht gut an. Doch dann geschah etwas Überraschendes: Derselbe Junge rief: „Deutschland, Deutschland!“ Gut, dachte ich, ein doppelter Nationalstolz ist immerhin ein wenig internationaler als ein einfacher.
Diesig, dunkel war es im „Reich des Bösen“ – zumindest, wenn man vom Flugzeug nach unter guckt. Zunächst ist da der Wald. Je weiter man sich Moskau nähert, desto mehr Siedlungen sind zu sehen. Die Straßen sehen menschenleer aus, die Häuser weniger geordnet und weiter verstreut als in Deutschland.
Moskau
Wegen des vielen Gepäcks fuhr ich mit dem Taxi vom Flughafen Vnukovo in die Stadt. Mir fiel auf, wie breit die Moskauer Straßen mit vier und mehr Spuren in jede Richtung sind. Bisweilen gibt es gar keine Spuren, sondern nur eine geräumige Straße. Selbst fahren würde ich in Moskau nicht wollen – zu schnell und aggressiv ist der Verkehr.
Der Taxifahrer wirkte hingegen ganz gelassen. Erst schien er distanziert und ruhig, doch nachdem ich etwas auf Russisch gestammelte hatte, packte ihn die Neugier. Er wollte mehr über Deutschland und mich erfahren; er wisse fünf Wörter auf Deutsch noch aus der Schule. Politische Diskussionen wollte ich eigentlich vermeiden, doch dann geschah mir ein Missgeschick: Ich wollte dem Fahrer erklären, warum ich Russland interessant finde und auf Russisch sagen: „Russland ist ähnlich wie die EU, aber auch nicht ähnlich.“ Doch er verstand anstatt „Europäische Union“ „Sowjetunion“. Er meinte, dass damals vieles besser gewesen sei und wie schade es ist, dass die Union zerbrochen ist. Ich erwiderte, dass viele Länder einfach unabhängig von Russland sein wollten. Darauf murmelte er etwas Unverständliches in seinen Bart. Immerhin gab es keine hitzige Diskussion.
Wiedersehen
Derselbe amerikanische Freund, mit dem ich die Ehre hatte, mein Jahr in Ungarn zu verbringen, lebt nun, sei es Zufall oder Schicksal, mit seiner russischen Freundin in Moskau. So habe ich dort nicht nur einen Schlafplatz, sondern auch eine kompetente Russlandexpertin und einen Freund, mit dem ich mich über Probleme und Herausforderungen des Lebens in Russland als Ausländer austauschen kann.
Viel möchte ich zu Moskau an dieser Stelle noch nicht schreiben; dafür will schon ein eigener Artikel, wenn nicht sogar mehrere, verfasst werden. Mein erster Eindruck der Millionenstadt ist, dass hier vieles möglich ist – schon die Vielfalt unterschiedlicher Restaurants ist überwältigend. Die Stadt ist lebhaft wie Tokio, aber nicht ganz so vollgestopft. Die Gebäude sind ganz anders als in Deutschland, erinnern bei solchen aus der Zeit der Sowjetunion an Ungarn, sind zum Teil riesig, vor allem in die Breite. Das ist wohl der Größe und der geopolitischen Bedeutung des Landes geschuldet.
Auf in die Provinz
Nun sitze ich also in der dritten Klasse in jenem Zug von Moskau nach Anapa über Voronež. Die Reisenden packen kollektiv ihr Vesper aus. Meine Nachbarn Sergej und Valentina wirken wie der Fahrer anfangs kühl, doch dann tauen sie auf und versorgen mich mit Buterbrody (Sandwiches mit Käse und Wurst, allerdings in diesem Fall ohne Butter) und allerlei Süßkram. Wiederum zur gleichen Zeit bauen die Fahrgäste die Sitzgelegenheiten zu Liegen um und lesen oder spielen mit dem Handy. Dann ist Schlafenszeit im kollektiven Zugreiserhythmus.
Mein Ziel, Voronež, ist in der Provinz. Alles außerhalb von Moskau und Sankt Petersburg gilt als Provinz in Russland. Dennoch ist sie mit etwa einer Millionen Einwohnern eine große Stadt. Die Uni wirbt mit einer „typisch russischen Erfahrung“ in Voronež. So bin ich wahrlich neugierig, was mich dort erwartet.
Auch wenn der Titel vermuten lässt, dass ich einen schlechten Start hatte: Der verschobene Flug war glücklicherweise das einzige negative Ereignis der letzten Tage. Jedenfalls wird meine Zeit in Voronež, Russland und wer weiß es, wo mich noch hintreibt, hochspannend; so viel ist sicher. Sicher ist auch, dass es davon noch viel zu berichten gibt.
*Auf meinem Blog verwende ich die wissenschaftliche Transliteration von Воронеж, und zwar „Voronež“. Auf Englisch schreibt man die Stadt „Voronezh“, auf Deutsch „Woronesch“.
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