Wettbewerb, was ist das? Der Liberale denkt sofort an Wettbewerb in „freien Märkten“, der das Geschäft belebt. Der Linksgrüne wiederum denkt an „Raubtierkapitalismus“, der durch tödliche Konkurrenz die Umwelt zerstört. Doch halt. Heute soll es um Wettbewerbe einer anderen Art gehen. An meiner Fakultät fand ein „Mister“- und ein „Miss“-Konkurs statt. Was dies genau zu bedeuten hat und was mich dabei überraschte, lest ihr im Folgenden.
Meine Erfahrung an Schulwettbewerben begrenzte sich auf einen Wirtschaftswettbewerb, den ich im Gymnasium, übertrieben gesagt, mit etwas Googeln gewann. So überraschte es mich in Ungarn umso mehr, dass hier zahlreiche Wettbewerbe in allen möglichen und unmöglichen Kategorien ausgetragen werden. Zum Beispiel sollten Teilnehmer einmal Gedichte auswendig lernen. Ebenso ist die einwöchige sogenannte „Kampagne“, ein Wettbewerb zwischen den Abiturklassen und „Königskandidaten“, ein Höhepunkt (mehr dazu hier).
Auch in Russland sind Wettbewerbe beliebt. Möglicherweise ein Relikt aus der „guten alten Zeit“, als der Eiserne Vorhang noch Europa teilte?
Entspannt meinen Cocktail auf Zypern schlürfend, erreichte mich eine Nachricht. Ob ich Lust hätte, an einem Wettbewerb für Männer teilzunehmen. Ich hätte die Möglichkeit, „Mister“ des Voronežer „Institut Meždunarodnogo Obrazovanija“ (Institut für internationale Bildung), kurz „Mister IMO“, zu werden. Ich hatte keine Ahnung, was dies sein soll. Nach kurzem Nachdenken willigte ich ein. Warum eigentlich nicht? Ich konnte ja nur etwas dazulernen.
Also begann die Vorbereitung. Einige normale und ein paar überraschende Aufgabe sollte ich meistern. Interessant war dabei, dass Ilja, der enthusiastische Mitarbeiter des Kulturzentrums meiner Fakultät, mir bei der Vorbereitung stark unter die Arme griff. Er wiederholte sehr oft, was zu tun sei. Wollte, dass ich täglich probte. Forderte, dass ich ein bestimmtes Gedicht anstatt eines anderen rezitiere.
War dies überhaupt noch ein Wettbewerb, wenn man den Teilnehmern alles zehnmal sagt und sie fast wie Kindergartenkinder behandelt? Jedenfalls will man Studierenden helfen, was erst einmal nicht schlecht ist. Doch dies geschieht, selbst wenn die Beteiligten das nicht nötig haben, so wie ich. Offenbart wird eine bevormundende und autoritäre Einstellung gegenüber Studenten. Ich bin geprägt vom Bild des selbstständigen, unabhängigen, an der Welt interessierten und kreativen Lernenden in Freiburg. Dieses bleibt sicherlich in vielen Fällen eine Wunschvorstellung – dennoch kann ich mich nur schwer an das beim Wettbewerb erfahrene Bild von Studierenden gewöhnen.
Es geht los…
Der Tag des Wettbewerbs war gekommen. Im Anzug sollte ich aufkreuzen, genauso wie die anderen fünf Teilnehmer aus China, Vietnam, Turkmenistan, Nigeria und Guinea-Bissau.
Langsam sammelten sich die gut siebzig Zuschauerinnen und Zuschauer aus den unterschiedlichsten Ländern in der Fakultät. Unterstützung war für mich von anderen ausländischen Studierenden unter anderem aus Ungarn und China gekommen. Die Stimmung war gut; für meinen Geschmack etwas zu laut drang der Bass von internationalen und russischen Hits aus den Boxen.
Die erste Aufgabe bestand darin, sich vorzustellen. Mit diesen Worten und Bildern präsentierte ich mich auf Russisch:
Guten Abend!
Wer bin ich? Diese Frage stellt sich jedem Menschen in seinem Leben. Diese Frage ist kompliziert, darüber kann man stundenlang sprechen. Doch heute habe ich leider nur zwei Minuten, um mich vorzustellen.
Ich heiße Simon Lukas Federer. Lukas ist übrigens nicht mein Vatersname, sondern mein Zweitname. Ich bin 23 Jahre alt und meine Heimatstadt ist Ravensburg in Deutschland. Hier verbrachte ich meine Kindheit.
Ich studiere in Freiburg, das ebenfalls in Baden-Württemberg gelegen ist. Freiburg ist bekannt für seine „Bächle“. Der Legende nach muss man, wenn man aus Versehen in ein Bächle tappt, einen Freiburger bzw. eine Freiburgerin heiraten. Außerdem ist Freiburg für seine Vegetarier, umweltbewusste Menschen und die wunderschöne Landschaft bekannt (z.B. für den Schwarzwald).
In Freiburg studiere ich Politikwissenschaft und Slavistik. Normalerweise lerne ich in diesem Gebäude. Nein, das ist kein Raumschiff aus „Star Wars“, das ist unsere Universitätsbibiliothek.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns einen fairen Wettbewerb!
Dass Lukas mein Zweitname ist, musste ich erwähnen, denn ich habe mir sagen lassen, dass es in Russland so etwas wie Zweitnamen nicht gibt. Ein russischer Name setzt sich aus einem Vornamen (z.B. Alexandr/Alexandra), einem Vaternamen (z.B., wenn der Vater Sergej hieß: Sergeevič für Männer oder Sergeevna für Frauen) und einem Nachnamen zusammen.
Die Jury bestand durchweg aus Frauen, die Noten nach der gewöhnlichen russischen (im Übrigen aber auch ungarischen) Skala von eins (schlecht) bis fünf (gut) vergaben. Aller Bescheidenheit zum Trotz hatte ich das Gefühl, dass meine Vorstellung deutlich besser war als die meiner Konkurrenten. Dennoch bekamen alle Teilnehmer von allen Juroren eine fünf. Doch letztlich verstand ich, dass sie keinen der Teilnehmer entmutigen wollten und sie außerdem nicht dafür bestrafen wollten, dass sie Russisch erst seit einem halben Jahr im Gegensatz zu meinen zweieinhalb Jahren lernen.
Schauspieltalent gefragt
Weiter im Text. Als nächstes sollten wir innerhalb von zwei Minuten so viele russische Städte aufschreiben, wie wir konnten. Ein wenig stupide, die Aufgabe, das muss ich schon sagen. Der neben mir sitzende Čary aus Turkmenistan fiel mir auf, da er nach Ende der zwei Minuten noch weiter schrieb. Niemanden außer mir schien das zu stören.
Die von uns geforderte sportliche Leistung bestand im Seilspringen und darin, einen Luftballon auf einem Federballschläger durch einen Parcours balancieren. Auch hier schummelte Čary und nahm im Parcours eine Abkürzung. Der sportliche Leiter erkannte dies glücklicherweise sofort und gab ihm einen saftigen Punktabzug.
Die nächste spannende Aufgabe war es, ein Mädchen zu schminken. Dies hatte ich noch nie in meinem Leben versucht. Doch zum Glück sagte mir meine ungarische Bekannte Dóri, die ich schminkte, genau, was zu tun sei. Erst ein wenig „Farbe“ im gesamten Gesicht verteilen, dann die Augenbrauen betonen, letztlich die Lippen röten… und schon war die Zeit um. Im Anschluss sollten sich die geschminkten Mädchen auf einem imaginären Laufsteg sich präsentieren. Ich pushte Dóri: „Zeig den Leuten deine Model-Fähigkeiten!“ Das tat sie, und legte eine beeindruckend gewitzte Performance ab.
Danach ging es darum, sein Schauspieltalent zu zeigen und ein Gedicht auf emotionale Weise auswendig vorzutragen. Ich wählte „Pora, moj drug, pora!“ („Es ist Zeit, mein Freund, es ist Zeit!“ -> hier der Text samt englischer Übersetzung) von Alexander Puškin. Um meine Kreativität anzuregen, erinnerte ich mich an meine Stunden in der Schultheater-AG bei Herrn Villa. Eigentlich wollte ich mich verkleiden, doch dann fiel mir etwas Besseres ein, das das Publikum noch mehr erstaunen würde: Als ich das Gedicht rezitierend dem Publikum gestand, dass wir alle sterben müssen, lies ich mich theatralisch auf den Boden fallen. Die Reaktion war gewaltig. Manche Jurymitglieder weinten, die Menge tobte.
Zum Schluss wurde es musikalisch. Jeder sollte mit einer Nummer seines Heimatlandes und einer russischen Nummer auftreten. Hier kam mir mein Ravensburger und letztes Semester wieder aufgegriffener Klavierunterricht zugute. Also brachte ich mein äußerst günstig in Voronež erstandenes Keyboard mit zum Wettbewerb und spielte darauf W.A. Mozarts schnelle „Sonate in C-Dur“.
Halt, sagen Sie, Mozart ist doch ein Österreicher und kein Deutscher! Wie kann ich es nur wagen, ihn als meine nationale Nummer zu missbrauchen!? Hierauf kann ich wie folgt antworten: Manchmal muss man pragmatisch sein, denn durch die Wahl eines schon bekannten Stückes sparte ich mir stundenlanges Einüben. Weiterhin fand ich im Internet heraus, dass Mozarts „Staatsbürgerschaft“ gar nicht so eindeutig geklärt ist. Der linksalternative Freiburger wiederum würde antworten, dass Nationen sowieso nicht wirklich vorhanden sind, sondern sozial konstruiert werden. Aufgefallen ist es letztlich sowieso niemandem.
Als russische Nummer sang ich das Liebeslied „Ja ne mogu skazat'“ („Ich kann nicht sagen“ -> hier der Text mit englischer Übersetzung) von Ani Lorak. Hier versuchte ich den Popstar zu mimen. Trotz meiner faktisch nicht vorhandenen Gesangs- oder Auftrittserfahrungen schien es dem Publikum richtig gut zu gefallen. Später sagte mir der Organisator Ilja mir sogar, ich sei ein sehr guter Sänger.
And the winner is…
Damit waren endlich alle Aufgaben vollbracht und die Siegerehrung stand an. Glücklicherweise ging keiner leer aus. Es wurden neben dem Haupttitel „Mister IMO“ auch Titel wie „Mister Charme“ oder „Mister Artist“ vergeben. Ich erwartete nicht, den Wettbewerb zu gewinnen. Die anderen hatten auch schöne und geistreiche Performances abgelegt. Doch dann hörte ich wie aus dem Off: „Mister IMO 2017 ist… Simon Federer!“ Ich sprang auf, jubelte, war gerührt. Dieser Wettbewerb, der mir eigentlich nicht wirklich wichtig war, den ich merkwürdig fand, bescherte mir Glückshormone – und eine Audi-Sporttasche.
Die Fotoapparate klickten, ich wurde von einer studentischen Zeitung interviewt. Hier ist der Artikel zu finden, wobei meine Fehler im Russischen glücklicherweise korrigiert wurden. Hier einige Impressionen des Wettbewerbs:
http://https://youtu.be/txHckIwv29c
Nach dem Konkurs ist vor dem Konkurs
Was für eine Erfahrung. Doch das war es mit Wettbewerben noch nicht gewesen. Einen Monat später fand der Konkurs „Miss IMO“ statt. Ilja bat mich, bei meinen Bekannten nachzufragen, welche Dame denn Interesse an einer Teilnahme hätten. Ich war der erste europäische Teilnehmer bei „Mister IMO“, dies wollten sie auch für den Schwesterkonkurs erreichen. Niemand sagte zu.
Doch dann kamen neue Studierende aus dem englischen Bath bei Bristol an und wurden ebenfalls gefragt. Der musikbegeisterten Engländerin Jasmine sagten sie, sie könne „an einem Gesangswettbewerb“ teilnehmen. Doch sie ahnte zunächst gar nicht, worauf sie sich eigentlich eingelassen hatte. Unfair, auf diese Weise Teilnehmerinnen zu gewinnen.
Diesmal gab es Teilnehmerinnen aus Nigeria, Guinea-Bissau, Vietnam, Turkmenistan und eben England. Die Mädchen gaben sich extrem weiblich, mit mühevoll hergerichteten Frisuren und kurzen Kleidern. Ich hörte, dass die Vietnamesin ihre persönliche Stylistin mitbrachte, die sich um ihr makelloses Aussehen kümmerte, sogar, als sich die Teilnehmerin für die sportliche Aufgabe umziehen musste.
Nur die Westeuropäerin kam relativ legère an. Tonnen Schminke fehlten, nicht einmal hochhackige Schuhe trug sie. Russen würden es wohl „zu wenig weiblich“ nennen, Europäer dagegen „natürlich“. Als ich meiner Sprachlehrerin Saša davon erzählte, bemerkte sie, dass europäische Frauen einfach nicht dieselben Waffen hätten wie Russinnen oder Nigerianerinnen.
Der Abend begann wiederum mit einer Vorstellungsrunde, bei der wiederum sehr wohlwollende Punkte vergeben wurden. Dann ging es darum, möglichst viele Adjektive über sich selbst innerhalb von einer Minute aufzuschreiben. Hier bekamen die Teilnehmerinnen schon im Vorhinein eine Liste mit Eigenschaftswörtern, die sie benutzen können. Irene aus Nigeria fiel hier besonders damit auf, besonders viele, jedoch weniger schmeichelhafte Adjektive zu nennen wie z.B. hässlich oder dick. Doch offenbar zählte die Quantität und nicht die Qualität der Adjektive.
Danach sollten die Damen einen Obstsalat schneiden, möglichst schön gestalten und der Jury präsentieren. Hier tat sich Silvina aus Guinea-Bissau besonders hervor – nicht unbedingt durch ihren schönen Salat, sondern dadurch, dass sie jedem Juror intensiv in die Augen blickte.
Weiterhin sollten die Teilnehmerinnen den immer gleichen Text mit einer selbst gewählten Emotion schauspielerisch darbieten. Dabei berichtete mir Jasmine, dass wiederum jede Bewegung und Gefühlsregung von Ilja vorgegeben wurde. Künstlerische Freiheit? Fehlanzeige.
Jasmine und ich überlegten, das Publikum zu schockieren und die pathetischen Zeilen ein wenig abzuändern: Am Ende des Textes sollten die Mädchen konstatieren, dass sie Gott gehörten. Hier hätte die Engländerin gut und gerne noch einfügen können, dass sie nicht an Gott glaube. Doch zu meinem Bedauern sagte sie brav ihren Text mit der Emotion „traurig“ ohne jegliche Änderungen auf. Sie schaffte es allerdings, ihre Stimme zum Brechen zu bringen, als ob sie gleich zu Weinen anfangen würde.
Dann war Silvina mit einer Emotion an der Reihe, die doch eigentlich gar keine ist: sexy. Damit verzauberte sie natürlich die männliche Jury und wurde bei dieser Aufgabe am besten von allen bewertet. Am Ende gewann sie sogar den Wettbewerb. Hier ein Ausschnitt aus ihrer russischen Nummer:
https://www.youtube.com/watch?v=3iTUDmbcU_Y
Bei der nationalen Nummer sang Jasmine „Be There“ von Seafret, bei der russischen Nummer „Milen’kij ty moj“ („Du mein Lieber“ -> hier der Text mit englischer Übersetzung). Der Saal war bei ihren Liedern zum ersten Mal seit Beginn des Konkurses vollkommen still und lauschte aufmerksam. Die Zuschauer waren sich einig, dass Jasmine eine wunderschöne Stimme hat (hört selbst). So bekam sie letztlich den Titel „Miss Charme“.
Hier der Artikel zum Wettbewerb.
Zum Schluss
Was kann man aus diesen Beobachtungen lernen? Ja, dieser Konkurs war eine ungewöhnliche und spannende, bisweilen aber auch merkwürdige Erfahrung.
Mir fiel auf, wie Stereotype über die (sozial konstruierten) Geschlechter reproduziert wurden. Dies zeigt sich schon darin, welche Aufgaben zu erledigen waren. Der Mann kennt einerseits russische Städte und reist aktiv herum. Die Frau andererseits bereitet einen Obstsalat zu, um ihre Fähigkeiten als zukünftige Hausfrau unter Beweis zu stellen. Es wurde sogar am Ende die Auszeichnung „Miss Hausfrau“ vergeben. Es kommt hinzu, dass beim Miss-Wettbewerb, zugespitzt gesagt, kurze Kleider und eine sexy Performance viele Bonuspunkte gaben, während wahres Talent weniger beachtet wurde.
Dies sind natürlich nicht die einzigen „Mister“- und „Miss“-Konkurse auf der Welt. Letztlich ist schon das grundlegende Konzept solcher Wettbewerbe in Bezug auf Geschlechterrollen problematisch, werden doch der „ideale Mann“ und die „perfekte Frau“ gesucht. Eine Idee wäre es, stattdessen Wettbewerbe für alle Geschlechter zu veranstalten, in denen eine gemischte Jury allein nach Talent bewertet.
Es bleibt zu hoffen, dass es in Zukunft mehr Wettbewerbe geben wird, die die Teilnehmer dazu anhalten, kreativ zu werden und dabei die eigene Komfortzone zu überschreiten. Denn dann ist Konkurrenz eine ziemlich gute Sache.
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