Ich kann es kaum glauben: Es ist schon vier Jahre her, dass mein „kulturweit“-Zwischenseminar in Transsilvanien stattfand und meinen ersten Verschnaufpausen-Artikel schrieb. Nun war es wieder November, wieder war es Zeit für eine Verschnaufpause in einem verschlafenen Städtchen, wieder gab es eine anstrengende Zugfahrt zu meistern. Bei unserer einwöchigen Uni-Exkursion in den Kaukasus kamen neben viel Freizeitstress auch bisweilen bereichernde, bisweilen nervenaufreibende Gespräche mit Studenten, der Dozentin und sogar einem russischen Diplomaten nicht zu kurz.
Lange hatte unsere Dozentin Raisa Andreevna auf uns internationale Studierende eingewirkt; sie wollte wie eine Wahlkämpferin wirklich jeden mit ihrem schier grenzenlosen Enthusiasmus überzeugen, dass die Fahrt in den Kaukasus ein unvergessliches Erlebnis werden würde. Letztlich willigten sechs Studenten inklusive mir ein, die sich an jenem Montag am sowjetischen Ruhmesdenkmal in der Nähe meines Hauses einfanden. Wir fuhren mit dem Kleinbus zum mir bereits bekannten und auf dem „linken“, obwohl östlichem Ufer gelegenen Bahnhof „Pridača“. Hier gesellte sich ein Überraschungsgast zu uns: Raisas Neffe Nikita. Der neunjährige Junge verbrachte seine Woche Schulferien mit uns im Kaukasus.
Es regnete schrecklich. Würde das Wetter im Kaukasus besser werden? Was erwartet uns überhaupt dort? Trotz der Bilder im Internet, trotz Google Maps, das verriet, dass sich der russische Kaukasus im äußersten Süden an der Grenze zu Georgien und Armenien befand, und trotz der enthusiastischen Reden unserer Lehrerin, hatte ich kaum eine Vorstellung, wie das Leben dort sein würde.
Mit einem Diplomaten im Abteil
Anstatt wie bei meiner Fahrt von Moskau nach Voronež mit der „Platzkart“ in der dritten Klasse zu fahren, konnten wird dank frühzeitiger Planung günstig im „Kupe“, der zweiten Klasse mit Viererabteilen, unterkommen. Doch auch dies war nicht frei von Überraschungen.
Aus irgendeinem Grund bekam ich kein Abteil zusammen mit den anderen Studenten, sondern war in einem Kupe mit drei Fremden. Die zwei älteren Frauen und der Herr um die siebzig sahen nicht äußerst spektakulär aus. Der Herr trug ein Feinripp-Unterhemd, das mir aus dem niveaulosen, aber beliebten Nachmittagsfernsehen der deutschen Privatsender bekannt vorkam. Seine Hose hatte den in Russland populären Militärlook.
Bei diesem Anblick konnte ich nicht ahnen, dass es sich eigentlich um einen pensionierten russischen Diplomaten handelte, der lange in München Konsul war. Kyrill war hocherfreut, mich zu kennen zu lernen. Manchmal auf Russisch, manchmal auf Deutsch erzählte er mir davon, wie schön doch Deutschland sei. Bei ein paar Schlückchen Whiskey zeigte er mir Bilder von seiner Reise nach Baden-Baden. Ein weiteres Highlight war ein Video von ihm zusammen mit dem ehemaligen Münchner Oberbürgermeister Christian Ude und dem ehemaligen Staatspräsidenten der Sowjetunion und Friedensnobelpreisträger, Michail Gorbatschow.
Doch auch politische Themen kamen – leider – nicht zu kurz. Die deutschen Medien berichteten nur Lügen, während es in Russland zahlreiche unabhängige Kanäle gebe. Die Annexion der Krim, die Kriege in Abchasien und Tschetschenien seien gerechtfertigt gewesen. Man habe interveniert, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern und die Integrität des russischen Staates zu wahren. Gegen den Überfall Stalins auf Polen hätten England und Frankreich nicht protestiert – deshalb sei auch dieser in Ordnung gewesen.
Er konnte nicht aufhören zu reden und stellte mir andauern komplizierte Geschichtsfragen. Das brauchte der Diplomat wahrscheinlich einfach mal – einem Deutschen ganz undiplomatisch seine Meinung zu geigen. Offenbar hat er in all den Jahren im Ausland nicht gelernt, auch andere Ansichten und Argumente angemessen zu diskutieren und nicht gleich zu verwerfen. Während ich kompromissbereit war, war er es überhaupt nicht.
Auch wenn es mir aus meiner jetzigen Perspektive und wahrscheinlich den meisten Lesern komisch vorkommt: Kyrill war ziemlich überzeugend. Durch die vielen in meinem Kopf kreisenden Gedanken, durch die Schnarchgeräusche der Pensionäre und durch das beständige Klappern des Zuges konnte ich die Nacht über kaum schlafen.
Von Kitzeln und Butterbroten
Ein unangenehmes Kitzeln widerfuhr meinem rechten Fuß. Hilfe! War ein aggressiver, mutierter Käfer aus dem nicht allzu weit entfernten Tschernobyl in mein Bett gekrabbelt?! Nein, Simon, wach auf! Es war lediglich die Hand unserer Lehrerin, die mich weckte.
Erst regte ich mich auf, denn mir kam ein solches Wecken durch einen Dozenten vollkommen unangemessen vor. Mir würde es nicht einmal gefallen, mich von meiner Familie morgens am Fuß kitzeln zu lassen. Sie war eine Dozentin! Wie konnte sie es wagen, mir derart nahe zu kommen?!
Doch halt: In Russland ist das Verhältnis zwischen Studierenden und Lehrenden an Universitäten völlig anders als in Deutschland oder Europa. Kurz gesagt, es ist wie an einer Schule – weshalb ich meine Dozenten oft auch als „Lehrer“ bezeichne: persönlicher, aber auch autoritärer. Persönlicher, weil man teilweise mit seinen Profs über private Themen spricht oder mit ihnen auf VKontakte, dem russischen Facebook, befreundet ist. Autoritärer, weil sie im Allgemeinen weniger auf die Meinung ihrer Studierender geben und Diskussionen im Unterricht nicht gerade fördern. Wichtiger ist eher, dass viel Stoff in kurzer Zeit auswendig gelernt wird.
Doch ein persönlicheres Verhältnis hat nicht nur schlechte Seiten: Kurze Zeit später brachte mir Raisa ein selbstgemachtes und äußerst schmackhaftes Buterbrod. Und auch sonst führten wir während der Exkursion viele spannende Gespräche über unsere Zukunft, Beziehungen und einiges mehr.
Müde verließ ich das Abteil und blickte schlaftrunken aus dem Fenster. Die Landschaft (auf Russisch übrigens „Ландшафт“ -> Landšaft) sah total anders als in Voronež aus, bergig und grün. Nach über 1000 Kilometern Reise kamen wir endlich in Kislovodsk an.
Das Taxi zu unserem Sanatorium mit dem einfallsreichen Namen „Moskau“ stand schon bereit. Die jahrelange Erfahrung unserer Dozentin schien sich in guter Planung auszuzahlen. Der erste Eindruck des Kurorts (auf Russisch „Курорт“) war, dass er mit einigen schönen Gebäuden ruhig, sauber und grün war.
Das Hotel sah altehrwürdig aus. Ich teilte ein Zimmer mit meinem geschätzten französischen Kommilitonen Gauthier. Kaum im Zimmer, blickten wir sogleich aus dem Fenster. Hier erschloss sich uns ein Paradies aus Tannen, Schnee und einem schnuckeligen Städtchen.
Frikadellen en masse
Wie so oft in der kommenden Woche gab es auch hier nur eine kurze Pause – wir wurden zum Essen gerufen. Raisa ermahnte uns, dass wir uns die Hände waschen sollen. Wir sind doch nicht im Kindergarten!? Ach so, Simon, vergiss nicht das andere Verhältnis zwischen Dozenten und Studenten in Russland…
Im Vorhinein mussten die Gerichte für die Woche „blind“ nach Namen bestellt werden. Hier gab es eine offenbar tolle Varietät: Borčš, Croissants, sogar Schnitzel. Fröhlich kreuzte ich meine Favoriten an.
Das Essen war insgesamt, mit einem Wort, annehmbar. Nicht zu viel, nicht zu wenig, nicht zu lecker, nicht zu eklig. Doch die große Auswahl gab es in der Realität nicht, die Küchenchefs waren lediglich in der Namensgebung kreativ, denn beispielsweise Schnitzel, Kebab und Kotlety war alle dasselbe: Kotlety, russische Frikadellen. Auch die Beilagen in Form von Kartoffeln und einer Art Sauerkraut sahen sich zum Verwechseln ähnlich.
Die Gäste des Sanatoriums, die hier bei angeregten Gesprächen dinierten, waren meist zwischen 40 und Mitte 50, sahen aber schon etwa zehn Jahre älter aus – und müde, abgearbeitet. Hier konnte man die niedrige Lebenserwartung in Russland am lebendigen Leibe sehen. Dies machte mich traurig und nachdenklich. Stell dir vor, du wärst eine dieser Menschen und hättest keine andere Überlebensmöglichkeit, als dich so kaputt zu arbeiten.
Einmal suchten wir die Hotelbar auf. Bier wurde dort zu unserem Frust nicht serviert, höchstens vielleicht unter der Theke. Dies ist verständlich, denn man besucht ein Sanatorium schließlich, um sich endlich seiner Gesundheit anzunehmen. Inwiefern es der Gesundheit dienlich sein soll, drei Mal am Tag Fleisch, insbesondere undefinierbare Kotlety zu essen, ist mir allerdings bis heute ein Rätsel.
Exkursionen en masse
Was in dieser Woche folgte, waren sehr viele, sehr schöne Exkursionen. Hier die Höhepunkte in Worten und Bildern:
Ein Spaziergang durch die Stadt. Vorbei an Obstgeschäften, Apotheken, Polikliniken, Hotels und Banken ging es ins Zentrum. Dort angekommen, bekamen wir unzählige Second Hand-Läden mit Mode aus Europa zu Gesicht. Hier ist „Europa“ eine Marke, die Qualität verspricht.
Doch auch die Architektur der Stadt erinnerte nicht an Voronež, sondern an Westeuropa: Anstatt grauer Plattenbauten gab es moderne Hotelkomplexe, anstatt Shoppingtempel eine malerische Innenstadt und anstatt breiter und vollgestopfter Straßen kleine, verschlungene und von Tannen gesäumte Sträßchen.
Der Name der Stadt Kislovodsk bedeutet so viel wie „saures Wasser“. Der Name ist Programm, besuchten wir dort doch eine Galerie, in der man Heilwasser trinken kann. Unser aller „Favorit“ war warmes Sulfatwasser, das so schön nach faulen Eiern stank und schmeckte. Was man nicht alles für die Gesundheit tut!
Putin kann ich
Früher dachte ich, Reiten sei nur etwas für Mädchen. Einmal bestieg ich ein Pony im Ravensburger Spieleland – das war es aber dann auch schon mit meiner Reiterfahrung. Später sah ich beeindruckende Bilder unseres Präsidenten Putin, wie er wie ein richtiger Macho oberkörperfrei ritt. Dann dämmerte mir langsam, wie mich die deutsche Jugend-Lügenpresse eigentlich indoktriniert hatte. Im Kaukasus sollte sich meine Meinung zu diesem Thema vollends ändern.
Einer der Reitlehrer holte uns mit dem Auto ab. Er nahm sogar unsere Bitte ernst, die Rückbank kurz nach vorne zu klappen, sodass wir uns anschnallen konnten (siehe Taxifahrten). Das fing schon mal gut an! Wir fuhren auf löchrigen Straßen vorbei an all den Second Hand-Läden auf noch löchrigere Wege. Die Sonne schien, strahlte den Schnee intensiv an. Weiter ging es in ein Wäldchen hinein.
Hier warteten schon die Pferde auf uns. Als erste Regel wurde uns erläutert, dass es extrem wichtig sei, sich nicht direkt hinter die Vierbeiner zu stellen – dies könne zu unglücklichen Unfällen führen. Als nächstes wurde uns das Besteigen und „Lenken“ gelehrt. Ich war nervös, das gebe ich zu. Alle anderen schafften den Aufstieg ohne Probleme, ich war als letzter an der Reihe. Sollte ich scheitern, wäre ich dann kein richtiger Mann, der ich ja in Russland sein muss? Sollte ich fallen, würde mir dann das langersehnte Praktikum im Kreml für immer verwehrt bleiben?
Einmal auf den Steigbügel stehen, am Sattel festhalten, und… hopp! Ich saß auf dem Tier. Geschafft! Los ging es zu einem romantischen Winterspaziergang durch eine perfekte Mischung aus verschneitem Wald und sonnigen Lichtungen auf dem fünfjährigen Syrjuga (wenn ich mir den Namen richtig gemerkt habe). Zuerst führte der Instruktor den Gaul. Offenbar ritt ich nicht allzu schlecht, denn er gab mir bald die Chance, das Pferd alleine zu führen. Obwohl ich bisweilen einen Kampf mit Syrjuga auszufechten hatte – ich wollte reiten, er wollte Gras fressen – genoss ich es wirklich, dachte: Das ist genau der Grund, warum ich im Ausland bin. Schönes sehen, neugierig Dinge ausprobieren.
Hier ein paar Bilder weiterer Exkursionen:
Ein traditioneller Abend
Ein Abend unserer Kaukasus-Reise ist mir in besonderer Erinnerung geblieben: Hier hatten wir die Möglichkeit, Kosaken und ihre Traditionen kennen zu lernen. Hierbei handelte es sich um ab dem 16. Jahrhundert bestehende freie Reiterverbände auf dem Gebiet des heutigen Russlands und der Ukraine. In der postsowjetischen Zeit kam es zu einer Wiederbelebung und Reorganisation des Kosakentums.
Die Begrüßung vor dem Zentrum für kosakische Kultur erfolgte mit Samagon, einem hausgemachten und selbstverständlich hochprozentigen Schnaps – diesen hatten wir in der klirrenden Kälte bitter nötig. Nach einer Besichtigung des Komplexes ging es endlich ins mit mit Holz beheizte Haus. Hier wartete ein richtiges Festmahl mit Eiern, grünen (!) Tomaten, sauren Gurken, Käse und vielem mehr auf uns. Zu Trinken gab es noch mehr Samagon, Wein und Aprikosen-Kompott. Ja, richtig gelesen. Kompott ist in Russland anders als in Deutschland keine Süßspeise, sondern flüssiger und ein typisch russisches Getränk.
Während des Schlemmens kamen ältere Damen, die offenbar unser Essen bereitet hatten, ins Zimmer und begannen, alte Lieder zu singen. Leider verstand ich von diesem speziellen russisch-ukrainischen Dialekt kaum etwas, doch ich merkte, wie traurig dieser Gesang gewesen sein musste, einige Teilnehmer fingen zu weinen an. Am Ende schien die Geschichte glücklich auszugehen oder mit einem Witz zu enden, auf einmal lachten die Menschen.
Habe ich hier die zu Schwermut neigende russische Seele hautnah miterlebt? Kann gut sein. Auf jeden Fall versuchte ich mir die wahrlich emotionale Atmosphäre einzuprägen.
Der nächste Höhepunkt des Abends: Meine Kommilitonen Georgia aus England und Gauthier aus Frankreich sollten nach kosakischem Brauch verheiratet werden. Zunächst mussten sie sich natürlich traditionell einkleiden. Dann konnten die Verhandlungen zwischen ihren jeweiligen „Müttern“ losgehen: Als erstes sollte Gauthier das Aussehen seiner Braut einschätzen. Dann musste Georgia sich im Brot Schneiden und traditionellen Bügeln beweisen.
Andererseits musste Gauthier als Bräutigam keine Aufgaben erfüllen. Uns wurde sogar berichtet, dass kosakische Ehefrauen früher ausgepeitscht wurden, wenn sie sich „falsch“ oder „unzüchtig“ verhielten. Ich war schockiert, doch einige russische Zuschauer mussten anscheinend darüber lachen. Was war daran nur lustig? Meine Kommiliton*innen vom Genderseminar in Freiburg fänden es jedenfalls überhaupt nicht zum Lachen.
Was in der Woche sonst noch zu entdecken war:
Nichts hatte sich verändert – außer uns
Mit unglaublich vielen teils nachdenklichen, meist aber faszinierenden Eindrücken traten wir die über 20-stündige Rückreise an, diesmal ohne Diplomaten, dafür philosophierten wir mit Raisa über unsere Zukunft, Heiraten und den Fleischkonsum in Russland.
In Voronež begrüßte uns der schreckliche Regen. Nichts hatte sich verändert – außer uns. Ich könnte den Artikel mit einem pathetischen Reise-Zitat von Oscar Wilde oder Goethe schließen. Doch ich möchte es folgendermaßen ausdrücken: Eine solche Tour in den Kaukasus war für mich nicht nur Anlass, neue Orte zu sehen, unzählige Fotos zu schießen und dankbares Material für einen Blog wie diesen zu bekommen, sei es beim Reiten oder beim Kosaken-Abend. Die Exkursion bot glücklicherweise auch Gelegenheit, herausgelöst aus dem mittlerweile eingekehrten Alltag in Voronež in einer paradiesischen Landschaft über alles und nichts, über Gott und die Welt nachzudenken.
Eine Antwort
[…] Es war so schön, gemeinsam diese Stadt zu entdecken und sich über Gott und die Welt auszutauschen – über Polen, Sprachen, Geschichte und so weiter. Wir sprachen auch über Mineral’nye Vody, eine Stadt im Kaukasus, deren Name auf Deutsch schlicht „Mineralwasser“ bedeutet. Diese Gegend ist bekannt für ihre Mineralwasserquellen. Dorthin hatte ich während meiner Studienzeit im russischen Voronež eine Exkursion gemacht. […]